Franziskus hat zwei Seelen in seiner Brust: die des Südamerikaners und die des Europäers. Dass er mit dem Karlspreis 2016 ausgezeichnet wird, ist nur konsequent.

Aachen - Europa macht unruhige Zeiten durch. Das mag angesichts der derzeitigen Probleme – der noch längst nicht ausgestandenen Wirtschafts- und Finanzkrise, dem Rechtsruck oder der Flüchtlingskrise – etwas unterspannt klingen. Doch angesichts anderer Krisen der an Konflikten wahrlich nicht armen europäischen Geschichte sind dies keine unlösbaren Probleme.

Franziskus und die historische Rolle Europas

Dass sich die Europäische Union mit diversen kleinen und großen Krisen und einem wachsenden Vertrauensverlust herumplagt, beunruhigt auch die Aachener Karlspreisgesellschaft. Seit ihrer Gründung vergibt sie seit 1950 jedes Jahr den Karlspreis. Ihr Direktorium hat jetzt entscheiden, die Auszeichnung 2016 an Papst Franziskus zu vergeben. Eine Wahl, die den 17 Direktoriumsmitgliedern nicht sonderlich schwer gefallen sein dürfte.

Der erste Nicht-Europäer auf dem Stuhle Petri ist, wenn es um internationale Auszeichnungen geht, die allererste Wahl. Angesichts der Tatsache, dass Franziskus im allgemeinen Ehrenauszeichnungen ablehne, sei seine Entscheidung, den Karlspreis anzunehmen, von besonderer Bedeutung, erklärte Vatikansprecher Frederico Lombardi. Sie demonstriere die Wertschätzung des von einem anderen Kontinent stammenden Papstes für die historische Rolle Europas.

Ein waschechter Südamerikaner

Franziskus ist Südamerikaner in zweiter Generation. Jorge Mario Bergoglios Vater, José Mario Francisco Bergoglio, stammte aus Italien. Er wanderte aus der piemontesischen Ortschaft Portacomaro nach Argentinien aus, fand Lohn und Brot bei einer argentinischen Eisenbahngesellschaft und heiratete 1935 in Buenos Aires die waschechte Argentinierin Maria Sivori, deren Eltern ebenfalls aus Italien stammten. Klein-Jorge erblickte am 17. Dezember 1936 in der argentinischen Hauptstadt das Licht der Welt.

Mit Krisen und Konflikten kennt sich der frühere Chemie-techniker, der 1958 in den Jesuitenorden eintrat, bestens aus. Als Jesuiten-Provinzial erlebte er die brutale Zeit der argentinischen Militärdiktatur (1976-1983) und danach – ab 1998 als Erzbischof von Buenos Aires – die schwierige, von Wirtschaftskrisen gekennzeichnete Demokratisierung des Landes.

Krisenhafte Zeiten für den Pontifex

Seit er am 13. März 2013 zum Papst und Nachfolger Benedikts XVI. gewählt wurde, setze er den Krisen in Europa und der Welt eine Botschaft der Ermutigung und Hoffnung entgegen, erklärten das Karlspreis-Direktorium und die Stadt Aachen am Mittwoch. Die Preisverleihung soll an einem noch zu bestimmenden Zeitpunkt im kommenden Jahr in Rom stattfinden. Jener Ewigen Stadt am Tiber, in der der Namensgeber des Preises „Carolus Magnus Rex Francorum et Imperator Romanorum“ am Ersten Weihnachtstag des Jahres 800 von Papst Leo III. zum römischen Kaiser gekrönt wurde.

Frankenkönig Karl (748-814) gilt als „erster Einiger Europas“. Der Preis „zielt auf freiwilligen Zusammenschluss der europäischen Völker“, wie es der Mit-Initiator, der Aachener Kaufmann Kurt Pfeifer, in der Gründungserklärung im Dezember 1949 formulierte. Die Mittel, zu denen Karl griff, waren indes alles andere als friedlich. Der damaligen Zeit geschuldet presste er Sachsen, Langobarden, Bayern, Awaren, Friesen und andere freie Völker mit Feuer und Schwert zu einer staatlichen Einheit zusammen. Groß war Karls Vision eines geeinten Reiches in der Tradition des „Imperium Romanum“, blutig der Weg dorthin.

„Stimme des Gewissens“

Anders als viele seiner päpstlichen Vorgänger, die im Krieg die Fortsetzung der Kirchenpolitik mit anderen Mitteln sahen, setzt Franziskus auf die Überzeugungskraft seiner Worte und Persönlichkeit. Der Papst sei eine „Stimme des Gewissens“, die mahne, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, heißt es in der Begründung des Karlspreisdirektoriums. Sie erinnere daran, dass Europa verpflichtet sei, Frieden, Freiheit, Recht, Demokratie und Solidarität zu verwirklichen. Diese Verpflichtung ergibt sich zwangsläufig aus der europäischen Geschichte, die seit Karls ersten Einigungsversuchen eine ununterbrochene Aufeinanderfolge von Kriegen, Schlachten und Metzeleien war.

Franziskus will den Preis dem europäischen Engagement für Frieden widmen. „Ich fordere alle auf, sich für den Frieden einzusetzen, insbesondere die Europäer, die Verantwortung für den Frieden auf dem Kontinent und weltweit tragen“, ließ er über Vatikansprecher Lombardi mitteilen.

Franziskus: „Europa erwecken und fördern“

„Der Papst ‚vom anderen Ende der Welt’ gibt Millionen Europäern Orientierung dafür, was die Europäische Union im Innersten zusammenhält: das für uns gültige Wertesystem, die Achtung vor Menschenwürde und Freiheitsrechten“, sagte der Vorsitzende des Karlspreisdirektoriums Jürgen Linden.

Mit dem Karlspreis werde Franziskus für sein „weltweites Engagement für die Menschheit gewürdigt“, erklärt der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx in einem Brief an seinen obersten Chef: „Unvergessen sind dabei Ihre mahnenden und ermutigenden Worte, die Sie vor den europäischen Institutionen in Straßburg gesprochen haben.“ Franziskus sei es gelungen, die Europäische Union an ihre Werte und Verantwortlichkeiten zu erinnern.

In der Preisbegründung verweist das Aachener Direktorium auf die Rede des Papstes vor dem Europäischen Parlament im November 2014. Darin habe das Kirchenoberhaupt eindringlich an die Abgeordneten appelliert, die Würde des Menschen in den Mittelpunkt ihres Handelns zu rücken und das große Potenzial der europäischen Idee nicht zu verspielen und unter anderem gesagt: „Es ist der Moment gekommen, den Gedanken eines verängstigten und in sich selbst verkrümmten Europas fallenzulassen, um ein Europa zu erwecken und zu fördern, das ein Protagonist ist und Träger von Wissenschaft, Kunst, Musik, menschlichen Werten und auch Träger des Glaubens.“