Die linke Utopie von Gleichheit soll in Stuttgart in reale existierende Verhältnisse verwandelt werden. Dafür steht der Fraktionschef der Linken. „Eine soziale Stadt ist möglich“, sagt Thomas Adler und erntet mit der Kampfansage Zustimmung und Skepsis.
Die linke Utopie von Gleichheit soll in Stuttgart in reale existierende Verhältnisse verwandelt werden. Dafür steht der Fraktionschef der Linken. „Eine soziale Stadt ist möglich“, sagt Thomas Adler und erntet mit der Kampfansage Zustimmung und Skepsis.
Stuttgart - Jeder kennt ihn, viele gehen hin: in den Kiosk von Franc Marks und Alice Biesmans. Hier trifft sich der Osten. Und an dieser Hausecke der Ostendstraße 59 trifft auch die Bedeutung des Wortes Kiosk (Ecke oder Winkel) mit der Realität zusammen. „In dieser Ecke der Stadt findet sich alles aus allen sozialen Schichten“, sagt Marks. Jung, alt, reich, arm, einsam oder zweisam. Politisch schwarz, grün, gelb, rot – und dunkelrot.
Letztere wollte Thomas Adler (60) an diesem Mittwochmorgen eigentlich seltener treffen. Gesinnungsgenossen muss er nicht erst vom Programm der Linken überzeugen. Da wäre es wie bei dem Sprichwort mit den Eulen, die man nicht erst nach Athen tragen muss. Einem Linken und S-21-Gegner muss er nicht erzählen, dass er „für eine soziale Stadt, die oben bleibt“, kämpft.
Aber der Wahlkampf ist kein Wunschkonzert. Adler spürt es schon bei seinem ersten Gesprächspartner. Alexander Schmitt (55) nimmt dem Fraktionschef der Linken sogar die Arbeit ab: „Den Schröder hätte man für seine Agenda 2010 wegsperren sollen.“
Links, rechts oder Mitte. Ungeachtet der politischen Überzeugung – eines vereint Schmitt mit fast allen, die in diesen Kiosk kommen: Sie sind gefrustet. Politik(er)verdrossen. Auch eine Rentnerin, die dem Postangestellten Schmitt und Adler ins Wort fällt. „Ich habe so eine kleine Rente. Und die wird sowieso nicht besser. Ganz egal, was ich wähle“, sagt sie, ehe sie ihren Lottoschein abgibt. Stadtrat Adler kann die Resignation der Frau gut verstehen und murmelt: „Sie setzt ihre Hoffnung eben nicht auf den Wahl-, sondern auf den Lottoschein.“
Ganz anders als Alexander Schmitt. Er will sich nicht mit den herrschenden Verhältnissen abfinden. „Ich wohne in der Talstraße, das ist der helle Wahnsinn“, sagt er. Der Verkehr, die Staus und die vielen Lkw quälen ihn. Adler blickt ihn betroffen an und stimmt zu: „Hier muss man etwas tun.“
Dieses Mandat hätte der frühere Daimler-Betriebsrat auch gerne von einer Frau aus Bosnien, die sich für acht Euro Lohn pro Stunde bei einem Discounter verdingt. „Ich will für sie und das Thema Mindestlohn streiten“, ruft ihr Adler entgegen und blitzt ab.
So wie bei Christine Kurz, einer Mutter von drei Kindern. Adlers Angebot, sich für kostenloses Essen in der Schule einzusetzen, lässt sie kalt. „Meine Kinder kommen zum Mittagessen nach Hause“, sagt sie knapp, lässt sich dann aber doch auf ein Gespräch ein: „Ja, Wohnen – das ist mein Thema.“ Sie spricht von dem Problem, das jeder Stuttgarter kennt: die Wohnungsnot und die hohen Mietnebenkosten. Es ist sozusagen das Fachgebiet der Linken. „Normalverdiener zahlen hier rund ein Drittel ihres Einkommens für Miete, Wenigerverdienende fast die Hälfte. Energie- und Wasserkosten steigen“, sagt Adler, „deshalb stimmt man am 25. Mai auch darüber ab, ob in Stuttgart weiter Immobilienfirmen oder Energiekonzerne regieren.“
Alles Papperlapapp, meint Horst Schneider (58). Erstmals an diesem Morgen bläst Adler heftig Gegenwind ins Gesicht. „Bezahlbare Mieten, dass ich nicht lache. Wo soll das Geld dafür denn herkommen?“, blafft Schneider, „es ändert sich ja doch nichts.“ Adler nickt zunächst und setzt dann den Konter: „Stimmt, solange sich die Mehrheiten im Gemeinderat nicht ändern, ändert sich auch nichts an der Politik.“
Sein Wegweiser lautet: Letzte Ausfahrt, links! Mit diesem Kniff versucht er auch Nichtwähler Niko M. aus Griechenland zu überzeugen: „Wenn Sie nicht wählen gehen, dann wählen sie automatisch die Bagage, die nichts ändert.“ Niko reibt sich nachdenklich das Kinn und meint schließlich: „Tja, das ist wahr. Ich bin seit 1997 hier und verdiene als Monteur heute im Prinzip so viel damals.“
Mit dem Thema soziale Gerechtigkeit punktet Adler auch bei vielen anderen Kiosk-Kunden. Einige davon wollen lieber anonym bleiben. Vielleicht, weil sie glauben, man dürfe diesen oft wiederholten Satz nicht laut aussprechen: „Wir fühlen uns von den Politikern betrogen.“ Vielleicht auch, weil sie es gewohnt sind, sich mit scheinbar unveränderbaren Dingen abzufinden. Zum Beispiel mit den Preisen für den öffentlichen Nahverkehr. Nur Horst Schneider wagt sich hier aus der Deckung: „Was die Öffentlichen kosten, ist eine Schweinerei.“
Bernd Schöllig (85) lässt das alles kalt. Er hat als 16-Jähriger nur mit Glück den Zweiten Weltkrieg überlebt und viel Schreckliches erlebt. „Daher bin ich mit der Situation zufrieden“, sagt er zu Adler und bringt ein K.-o.-Argument: „Außerdem bin ich CDUler.“ Thomas Adler kennt das schon: Wahlkampf ist kein Wunschkonzert. Aber Aufgeben kommt für ihn nicht infrage.