Als ob man seinen Lieblingsnatursender schaut, nur ohne Fernsehen: In Kanada lassen sich Eisbären, die größten Landraubtiere der Erde, hautnah beobachten. Foto: Duval

Wer Eisbären sehen möchte, muss nicht zum Nordpol. In Kanada kommt man ihnen auch nahe.

Ich bin gerade dabei, meinen ersten Schluck Kaffee zu trinken, als der Bär auftaucht. Groß, zottelig, vom Regen durchnässt, der Pelz mehr grau als weiß. Mit neugierigem Blick sieht er mich an. Das fängt ja gut an, denke ich. Vor einer halben Stunde angekommen, die Fototasche noch nicht richtig aufgeräumt, und schon tappt mir der erste Bär vor die Füße. Mike beruhigt mich. Es wird nicht der letzte sein, den wir zu Gesicht bekommen, sagt er. Er behält recht.

Wir sind zur Nanuk Polar Bear Lodge an die Hudson Bay in Manitoba im nördlichen Kanada gekommen, um Eisbären zu beobachten. Aus nächster Umgebung. Zu Fuß, Auge in Auge mit dem größten Landraubtier der Erde, ohne in einem gepanzerten Fahrzeug zu sitzen. Das Abenteuer fängt mit der Anreise an, denn die Lodge ist nur aus der Luft zu erreichen. Gillam Air Buschflugzeug Nummer 7 transportiert nicht nur uns Passagiere, sondern auch das wichtigste Gut für die kommenden Tage – unsere Verpflegung. "Willkommen am Ende der Welt", begrüßt uns Mike Reimer, Eigentümer von Nanuk.

So schnell der erste Bär, der unseren Empfangskaffee kalt werden ließ, sich der Lodge näherte, ist er auch wieder verschwunden. Dass ich daran nicht ganz unschuldig bin, gebe ich nur ungern zu. Endlich habe ich meine Kamera zur Hand, gehe zielstrebig Richtung Maschendraht, der mich von Wildnis und Eisbär trennt. Dann passiert etwas, womit ich nie gerechnet hätte: Der Bär macht sich aus dem Staub. "Nie direkt auf einen Bären zulaufen", erklärt mir Andy McPherson. "Hektische Bewegungen machen sie nervös." Andy ist ausgebildeter Naturführer und Bärenexperte. Zusammen mit Butch Saunders und Gordi Sincler ist er für unsere Expedition verantwortlich.

Gordi und Butch kennen die Umgebung so gut wie ihre Winchester 303. "Sie schießt noch immer gerade wie ein Pfeil", sagt Butch und streichelt liebevoll über den Lauf. Gordi nennt sein Jagdgewehr "Uncle Tom". Mit breitem Grinsen erinnert sich Gordi, als vor Jahren ein Eisbär auf der Suche nach etwas Fressbarem sogar bis in die Küche kam. Damals wurde das Anwesen nur von Jägern genutzt. Einen Zaun gab es nicht. Im Sommer, wenn die Bay eisfrei ist, kommen die Bären her. Bis zu 400 sind zu sehen während der Monate, in denen das Land grün ist, berichtet Mike. Als die Lodge zum Verkauf stand, zögerte er daher nicht lange.

Am nächsten Tag verlassen wir Nanuk. In gemütlichem Tempo ruckeln wir auf Anhängern, die von Allradfahrzeugen, sogenannten Quads, gezogen werden, durch die aufgeweichte Tundra. Andy hat einen Bären erspäht, nur wenige Hundert Meter entfernt. Unsere Guides stoppen, und wir gehen zu Fuß weiter. Der Bär hat uns bemerkt. Neugierig hebt er seine Schnauze. Andy wartet ab, wie der Eisbär reagiert. Zeigt er kein Interesse oder distanziert er sich, werden wir uns nicht weiter nähern. Doch der Eisbär kommt näher. Mein Herz beginnt zu rasen. Plötzlich ist er zwischen den Büschen verschwunden. Nervös trete ich auf der Stelle, nur das Schmatzen der Gummistiefel auf dem matschigen Boden ist zu hören. Wir halten alle unsere Fotoapparate bereit. Wo ist der Bär?

Da, zwei pelzige Ohren und ein schwarzes Augenpaar tauchen zwischen den Sträuchern auf. Der Bär ist nah, verdammt nah. "Hey Buddy, das ist nah genug." Andy spricht mit ruhiger, aber deutlicher Stimme. Vor Aufregung kann ich kaum meine Kamera ruhig halten. Zwischen uns und dem Bären liegen gerade mal 20 Meter. Butch und Gordi zeigen per Handzeichen, wir sollen uns auf den Anhänger zurückziehen. Die Sicherheit der Gäste hat oberste Priorität, wir haben uns unbedingt an ihre Anweisungen zu halten. Eine falsche Bewegung, und der Bär könnte dies als Angriff werten. Mit fatalen Folgen.

Fasziniert beobachten wir den Eisbären, der hin und wieder den Kopf in unsere Richtung hebt, sonst aber in den Büschen nach Nahrung sucht. "Er ist sich unserer Anwesenheit sehr wohl bewusst," sagt Andy. "Aber jetzt weiß er, dass wir keine Gefahr für ihn darstellen." Als wir einige Zeit später mit strahlenden Gesichtern und vollen Kamera-Speicherkarten auf unseren Fahrzeugen weitertuckern, sieht er uns lange nach.

Auf Nanuk gehen die Uhren anders. Den Zeitplan gibt die Natur vor. Wir müssen uns nach Gezeiten und Wetter richten. Auch heute. Die Flut ist noch zu hoch, um den Fluss mit den Quads zu überqueren. Erst am späten Vormittag können wir aufbrechen. Abends sind Butch und Gordi stolz. Zehn Eisbären haben sie aufgespürt. Den ersten macht Gordi an der Küste aus. Noch ist er nur als kleiner Punkt am Horizont zu erkennen. Butch und Andy packen das Picknick aus. Inständig hoffen wir, dass der Bär näher kommt, während wir unsere Sandwiches kauen. Plötzlich geht alles sehr schnell. Der Bär kommt – innerhalb einer halben Minute ist er auf unserer Sanddüne angelangt. Butch und Gordi reagieren sofort. Butch startet sein Quad, schirmt unsere Gruppe von rechts ab, Gordi schützt uns, Uncle Tom in Händen, von der linken Seite.

Wir halten den Atem an. Andy ist etwa 1,70 Meter groß. Geradezu winzig wirkt er im Vergleich zu dem mächtigen Eisbären, der sich jetzt keine zehn Meter vor ihm befindet. Sein Zureden nützt nichts, der Bär bleibt. Erst als Andy zur Schreckschusspistole greift und eine Heulrakete am Bär vorbeipfeift, läuft er davon. Schreckschüsse seien hin und wieder notwendig, erzählt Andy danach. Nie gab es einen Zwischenfall, bei dem das Gewehr eingesetzt werden musste. Die anderen Bären kommen uns an diesem Tag zwar auch sehr nahe, doch lieber bleiben sie faul in der Sonne liegen, grasen auf grünen Wiesen oder machen sich vom Acker, nachdem sie uns beäugt haben. Als nach vier aufregenden Tagen das Brummen des Buschflugzeugs über Nanuk ertönt, watschelt wie zum Abschied ein Eisbär aus dem Gebüsch und posiert für letzte Fotos.

Kanada

Allgemeine Informationen
Manitoba liegt in der Mitte Kanadas und ist mit 649950 Quadratkilometern die sechstgrößte Provinz Kanadas. Etwa 16 Prozent der Fläche liegen unter Wasser, deshalb wird Manitoba auch das Land der 100000 Seen genannt. Hauptstadt ist Winnipeg mit 700000 Einwohnern ( www.travelmanitoba.com).

Anreise
Flüge ab Frankfurt mit Air Canada via Toronto nach Winnipeg gibt es bei verschiedenen Anbietern. Weiter geht es mit Calm Air nach Gillam. Von dort bringt ein Charterflug die Besucher zur Nanuk Lodge. www.nanukpolarbearlodge.com.
Churchill Wild ist ein Anbieter von Wildnistouren, der sich auf Eisbärenbeobachtung spezialisiert hat. Infos: www.churchillwild.com.

Reisezeit

Während des arktischen Sommers von Juli bis August. Die Temperaturen reichen dann von plus 30Grad Celsius bis hin zu Minusgraden.

Preise
Landeswährung ist der Kanadische Dollar. Ein Kanadischer Dollar entspricht etwa 72 Euro-Cent.