Tübingens OB Boris Palmer will Grundstücksbesitzer, die nicht bauwillig sind, notfalls enteignen. Foto: dpa

In Zeiten der Wohnungsnot muss jeder verfügbare Paragraf herhalten. Doch viele Gemeinden müssen sich an die eigene Nase fassen.

Stuttgart - Not macht erfinderisch. Der alte Spruch gilt dieser Tage ganz besonders für den vielerorts massiv angespannten Wohnungsmarkt. Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer etwa ist jetzt im Baugesetzbuch fündig geworden. Darin ist ein Baugebot formuliert. Damit will er die Eigentümer von 550 baureifen Grund-stücken zwingen, ihren Grund und Boden mit Gebäuden zu bestücken. Ansonsten droht ihnen Enteignung.

In Stuttgart weist der Mieterverein darauf hin, dass Kommunen im Notfall Wohnungen auch vorübergehend beschlagnahmen können. Nämlich dann, wenn die Mieter raus müssen, aber trotz größter Bemühungen kein neues Dach über dem Kopf finden. Und wenn die Stadt selbst auch nichts mehr anbieten kann. Die Grundlage dafür findet sich im Polizeirecht. Dort ist zwar von „Sachen“ die Rede und einer „Störung der öffentlichen Sicherheit“, aber das lässt sich auch auf Wohnraum beziehen. Manche Stadt im Land hat das bereits getan.

Kaum noch Sozialwohnungsbau

Es sind dieselben Städte, die teils vor kurzem noch geleugnet haben, dass es überhaupt eine Wohnungsnot gibt. Die wie Stuttgart jede eigene Bautätigkeit praktisch eingestellt haben, gerade im sozialen Wohnungsbau. Die dogmatisch darüber diskutieren, ob überhaupt neues Bauland ausgewiesen werden darf oder die grüne Wiese heilig ist.

Bei allem Verständnis für verzweifelte Paragrafenreiterei: Wenn jetzt darüber diskutiert wird, Grundstücksbesitzer zu enteignen oder Wohnungen zu beschlagnahmen, muss sich die Politik zuallererst an die eigene Nase fassen. Not macht erfinderisch. Aber wären die Städte beim Entwickeln von Ideen für den Bau zusätzlicher Wohnungen ähnlich kreativ, wäre die Not deutlich kleiner.

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juergen.bock@stuttgarter-nachrichten.de