Integrationsbeauftragte Balci: „In den Institutionen des reaktionären Islam wird Religion für politische Zwecke missbraucht.“ Foto: dpa

Güner Balci ist Integrationsbeauftragte in Berlin-Neukölln. Im Interview gibt sie eine Liebeserklärung an ihre Heimat ab und warnt vor der Gefahr durch einen reaktionären Islam.

Güner Yasemin Balci ist in Berlin-Neukölln geboren. Im Gespräch erzählt die Integrationsbeauftragte, welche Macht der politische Islam heute schon ausübt. Sie fordert mehr Gehör für aufgeklärte Muslime und ein entschiedeneres Vorgehen der Politik gegen jedweden Extremismus.

 

Frau Balci, Sie sagen: Deutschland ist für Sie das beste Heimatland. Wie meinen Sie das?

Ich empfinde eine tiefe Verbundenheit, weil ich hier geboren und aufgewachsen bin und schon früh gemerkt habe, dass man in diesem Land viel sein kann. Die Freiheit, die mir in der Schule oder im Mädchentreff MaDonna vorgelebt wurde, war wunderbar. Ich habe damals festgestellt, dass in diesem Land Menschenrechte und Meinungsfreiheit für jeden gelten. Ich bin ja groß geworden mit dem Kontrast zwischen meiner Familie, den Bergdorfmenschen mit ihrer Sippenkultur, und der großen weiten Welt in Deutschland, die viel mit einer Freiheit im Kopf zu tun hat.

Sie sind mit Ihrer Familie aber aus Neukölln fortgezogen. Weshalb?

Ich wollte mal an einem Ort in Berlin leben, der völlig anders ist als das, was ich seit meiner Kindheit kenne. Neukölln ist ja nicht nur die Sonnenallee, wo sich patriarchal-religiöse Strukturen durchgesetzt haben. Aber im Rollbergviertel wollte ich mit meiner Tochter nicht mehr leben. Man muss als Mädchen nicht sieben Tage die Woche überlegen müssen, wie man sich in der Öffentlichkeit verhält, um in Ruhe gelassen zu werden.

Ihr neues Buch „Heimatland“ wirkt wie ein nostalgischer Rückblick auf eine versunkene Welt. Was hat sich verändert?

Arbeiter, Niedriglöhner und Transferleistungsempfänger waren früher sozial mehr durchmischt. Das ist weg. Stattdessen sind heute Milieus mit nur wenig Berührungspunkten zwischen den Menschen, auch über Kulturen hinweg, entstanden.

Woher kommt das?

Das liegt an der Dominanz eines reaktionären Religionsverständnisses im nicht akademischen Milieu. Dort ist heute vor allem eine religiöse Identität wichtig. Das hat bei uns früher überhaupt keine Rolle gespielt. Und wurde durch den politischen Islam vorangetrieben. Dahinter steckt seit Langem eine klare Strategie, die die Kieze verändert.

Die Geschichte Ihrer Eltern und Jugend liest sich wie ein Aufstieg wider Willen. Was hat Westberlin anders gemacht?

Wenn die Menschen eng zusammenleben und gemeinsame Werte nicht infrage stellen, entsteht im besten Fall etwas Neues. Auch damals gab es schon diejenigen, die sich – religiös-reaktionär motiviert – abgesondert haben. Da zeigten sich nur Jungs in der Öffentlichkeit, während Schwestern und Frauen im Hintergrund bleiben mussten. Die waren aber in der Minderheit, das hat man einfach ignoriert.

Polizei vor einem Gymnasium in Berlin-Neukölln. Dort kam es im Herbst 2023 zu einem nicht näher bezeichneten Vorfall im Zusammenhang mit den Massakern der Hamas in Israel. Foto: dpa

Heute gibt es Integrationskurse für Migranten und andere Hilfen. Trotzdem scheint vieles nicht zu funktionieren. Warum ist das so?

Viele Menschen erleben keinen gemeinsamen Alltag mehr. Ich sehe heute in Neukölln homogene Milieus. Die lassen sich auf zwei grundlegende Gruppen herunterbrechen: reaktionär und nicht-reaktionär weltoffen.

Als Integrationsbeauftragte wurden Sie von Anfang an von Islamisten und Linken angefeindet. Schüchtert Sie das ein?

Nein, es zeigt mir, dass ich mich auf dem richtigen Weg befinde. Früher haben mich moralische Zuweisungen und aufgezwungene Geschlechterapartheid beeinflusst. Heute sehe ich das viel größer: die kollektivistische Art, die Gesellschaft zu unterteilen, und das dahinter stehende Wertesystem sind ein massiver Angriff auf unsere Freiheiten. Die liberalen Werte sind aber für mich nicht verhandelbar. Wir müssen aufpassen, dass uns eine falsche Toleranz nicht zum Verhängnis wird.

Man kritisiert auch, dass Sie Rechtsextremen Munition liefern. Was sagen Sie?

Von Rechtsextremisten geht die größte Gefahr für die Demokratie aus. Sich aber dahinter zu verschanzen, über keine echten Probleme mehr zu debattieren, macht die Rechten nur stärker. Unter den AfD-Anhängern will ich auch nicht alle verloren geben. Die Partei und ihre Politiker sind eine Riesenbedrohung. Das ist der Anfang eines üblen neuen Faschismus. In meinem Alltag erlebe ich aber Wählerinnen und Wähler, die naiv, aber immer noch offen sind für ein Gespräch. Diese Menschen haben auch ein Recht gehört zu werden, wenn sie etwa von Heimatverlust sprechen. Wenn wir darüber reden, kommen wir uns einander näher. Wenn wir aber alles sofort canceln und das, was uns nicht passt, sofort als rechts abstempeln, treiben wir die Leute den Rechten in die Arme.

Sie kritisieren andere Integrationsbeauftragte, sie würden Migranten oftmals mit einem „Rassismus der niedrigen Erwartungen“ begegnen. Was ist für eine erfolgreiche Integration nötig?

Ich kritisiere alle, die Menschen ungleich behandeln. Ein gutes Miteinander beginnt mit der Überzeugung, dass wir eine gemeinsame Gesellschaft bilden. Es geht nicht darum, ob jemand perfekt Deutsch spricht, arm oder reich oder gebildet ist. Entscheidend ist, ob jemand die Werte unseres Landes mitträgt und schützt. Jeder, der das Gegenteil möchte, gehört nicht zu meiner Gesellschaft und muss unter Kontrolle gehalten werden. Die Sache ist einfach: Es gibt Menschen, die unsere freie Demokratie mit all ihren Widersprüchen schätzen und leben. Und es gibt jene, die unsere Demokratie infrage stellen und sie abschaffen wollen. Dazu gehören nicht nur Extremisten. Es gibt Vorstufen. Da kann man noch versuchen, zu reden.

Welche Rolle spielt bei misslungener Integration die Religion?

In den Institutionen des reaktionären Islam in Deutschland wird Religion für politische Ziele missbraucht. Dort bildet sie das Fundament, aus dem ein eigenes Wertesystem abgeleitet wird, das in vielen Punkten nicht mit unseren Grundrechten vereinbar ist. Der Lackmustest ist immer: Wie sieht es aus mit den Frauenrechten, der Homophobie und dem Antisemitismus. So lässt sich schnell erkennen, wie verfassungsfeindlich eine Organisation ist. Und das sind einige.

Gleichzeitig suchen Politiker immer wieder die Nähe zu extremistischen türkischen Kreisen. Ist das nicht riskant?

Die extreme Rechte und der Islamismus sind am Erstarken. Politiker aller Parteien lassen sich trotzdem allzu gerne mit Islamisten ein, um ihre eigenen Machtinteressen durchzusetzen. Das Beispiel von Nordrhein-Westfalens erstem Integrationsminister Armin Laschet (CDU) zeigt, dass der Klüngel mit den Verbänden Ditib und der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) Wählerstimmen aus diesen Kreisen gebracht hat. Wenn sich ein demokratischer Politiker mit Islamisten oder türkischen Faschisten ablichten lässt, müssen daraus Konsequenzen folgen. Das sollte man nicht durchgehen lassen.

Was müsste die Politik tun, damit Extremisten nicht noch mit öffentlicher Unterstützung ihr Unwesen treiben?

Da sind selbst die Recherchen des Verfassungsschutzes noch ausbaufähig. Wir brauchen gründliche Erkenntnisse über einschlägige Organisationen, die jedem zugänglich sind. Auf dieser Grundlage können dann eine Zusammenarbeit und Baugenehmigungen abgelehnt werden, um die Expansion eines reaktionären Islam zu bekämpfen.

Wie könnte man Migranten mehr Gehör verschaffen, die die Werte einer modernen Gesellschaft hochhalten?

Das ist der Schwerpunkt meiner Arbeit in Neukölln und erfordert eine wirklich enge Beziehungsarbeit. Wir sind zwar ein Bezirk mit einer wachsenden Zahl antisemitischer Straftaten. Wir haben aber auch arabischstämmige Muslime, die sich trotz der Androhung von Gewalt für ihre jüdischen Mitbürger einsetzen. Diese Menschen muss man zusammenbringen und ihnen klar machen, dass sie eine Gruppe bilden. Mutige Menschen gibt es überall. Auch wenn sie nicht schon seit zwanzig Jahren in den Gremien mitbestimmen. Sie leisten oftmals gute Arbeit, werden aber nicht gefördert.

Zur Person

Güner Yasemin Balci
Die Journalistin, Filmemacherin und Schriftstellerin wurde 1975 in Berlin-Neukölln geboren. Aufgewachsen ist sie im Rollbergviertel in dem heutigen Brennpunktbezirk. Die Muttersprache der Eltern ist Zazaki, die Sprache der alevitischen Minderheit, die in der Türkei bis Mitte der 80er-Jahre verboten war. Ihr Vater arbeitete in der Fabrik, ihre Mutter ging putzen. Seit 2020 arbeitet Balci als Integrationsbeauftragte in Neukölln. Ihr gerade erschienenes Buch „Heimatland“ (Berlin Verlag) ist ein Bestseller.