Die Zahl der HIV-Infektionen erhöht sich in Russland schneller als irgendwo anders auf der Welt. Es fehlt das Geld zur Behandlung. Schlimmer noch: Aids ist ein Tabu-Thema, was die Aufklärung unmöglich macht.
Stuttgart - In Europa haben im vergangenen Jahr mehr als 29 000 Menschen die Diagnose HIV bekommen. Damit ist die Zahl der neu entdeckten Infektionen nach Angaben von Gesundheitsorganisationen in den Ländern der EU und des europäischen Wirtschaftsraums leicht rückläufig. Zugleich aber wüssten Tausende noch nichts von ihrer Erkrankung, da sie oft erst nach Jahren entdeckt werde.
Großes Risiko eine Ansteckung
Etwa jede zweite Diagnose werde erst in einem späten Stadium gestellt, teilten das Europäische Zentrum für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am Dienstag mit. Dadurch hätten Patienten weitaus schlechtere Aussichten und das Risiko einer Ansteckung steige, erklärte ECDC-Direktorin Andrea Ammon. „Im Schnitt dauert es drei Jahre von der Infektion bis zur Diagnose - was viel zu lang ist.“ Wird eine HIV-Infektion nicht rechtzeitig erkannt und behandelt, entsteht daraus die Immunschwächekrankheit Aids.
Alarmierend sind nach Angaben der WHO die Zahlen, wenn man über die Grenze der Europäischen Union hinausblickt. Im Großraum Europa, zu dem neben den EU-Staaten auch Länder wie Russland, Kasachstan und Usbekistan zählen, gab es dem Report zufolge 2016 sogar 160 000 neue HIV-Diagnosen. Damit sei die Region die weltweit einzige mit steigenden Infektionszahlen.
Viele Aids-Tote in Russland
Sorgen bereitet Experten zufolge vor allem die sich schnell steigende Zahl von HIV-Infektionen in Russland. Insgesamt sind dort nach Angaben des Moskauer Epidemiologen Wadim Pokrovski mehr als 1,1 Millionen Menschen mit HIV registriert. Nach Daten der Statistikbehörde „Rosstat“ starben allein 2016 18 577 Menschen an den Folgen von Aids. Jedes Jahr werden rund 95 000 neue Fälle registriert; das bedeutet, dass sich täglich mehr als 250 Menschen mit HIV ansteckten. Die Verbreitung verläuft ungebremst. Das Land befinde sich im Übergang zu einer „allgemeinen Epidemie“, bei der mehr als ein Prozent der Bevölkerung infiziert ist, erklärt Pokrowski. In 15 russischen Regionen wurde diese Grenze überschritten; dort sind mehr als ein Prozent von schwangeren Frauen erkrankt.
Zwar hat die Politik das Problem erkannt, reagiert aber halbherzig. Premierminister Dmitri Medwedjew hat 2016 ein mehrjähriges Programm aufgelegt, das jedoch mehr ein Dokument des guten Willens ist. Solange erzkonservative Politiker verkünden, Aids sei eine Erfindung des dekadenten Westens, schenkt man dem ungeliebten Phänomen keine große Aufmerksamkeit.
Im Kampf gegen Aids fehlt es an Geld
Epidemiologe Pokrovski nennt noch weitere Probleme. So fehle es im Kampf gegen die Krankheit schlicht an Geld. Das russische föderale Gesundheitsministerium etwa kaufe aus Spargründen vor allem billige Generika, von denen viele veraltet seien. Die Ersatztherapie mit Methadon ist verboten
Zum Problem geworden sei auch eine „konservative Wende“ in der Gesellschaft. Sexualität wird tabuisiert, eine wirkliche Aufklärung ist kaum möglich. Zudem hat sich die Einstellung zu den von der Krankheit am stärksten betroffenen Gruppen zum Negativen verändert. Homosexualität wird staatlich bekämpft und Drogenabhängige an den Rand gedrängt, sie erhalten keine Substitutionstherapie oder auch keine sauberen Spritzen.
Helfer aus dem Ausland werden behindert
Aids-Aktivisten aus dem Westen kritisieren die russische Regierung noch aus einem ganz anderen Grund. Ihnen werde die Hilfe unnötig schwer gemacht. Organisationen, die ihr Geld aus dem Ausland erhalten, müssen sich als „ausländische Agenten“ registrieren lassen, was den Widerstand in der Bevölkerung zusätzlich schüre. Ändere sich nicht grundsätzlich etwas, klagen die Helfer, sei der Kampf gegen Aids in Russland verloren.