„Tu was“ heißt das Motto: gegen Aggression und Gewalt, für Hilfe, wenn andere Menschen in Not sind. Die Polizei legt unter diesem Motto ihre Kampagne zur Förderung der Zivilcourage neu auf.
Der Opfertyp ist die jüngere Frau nicht, eher der provokative. Die Musik dröhnen lassen an der Bushaltestelle, dann noch rauchen. Ein Mann regt sich auf, wird seinerseits laut und aggressiv. Handgreiflichkeiten liegen in der Luft. Drei beherzte Bürger greifen ein, gehen den Tobenden an. Die Situation eskaliert.
Anderes Beispiel: Ein junger Mann bemerkt, wie mitten in der Nacht drei Typen parkende Autos beschädigen. Er spricht die Täter an, diese hauen ab, der mutige Zeuge setzt ihnen nach, nicht ohne gleichzeitig die Polizei zu rufen. Tatsächlich erreicht er das flüchtende Trio, wird aber von zweien der Männer angegriffen und verletzt. Dank seiner Hinweise konnten sie von der Polizei rasch festgenommen werden.
Tatverdächtige verfolgt
Der zweite Fall spielte sich am 13. Juni 2021 auf dem Esslinger Zollberg ab, der erste kürzlich auf dem Esslinger Marktplatz. Der zweite Fall ist „echt“, der erste – Theater. Mit der Szene des Theaters Q-Rage eröffnete die Polizei ihr Projekt zur Zivilcourage; genauer: die Präsentation der seit 2001 bestehenden, jetzt in einer neuen Kampagne wieder aufgegriffenen Aktion „Tu was“. „Weggeschaut, ignoriert, gekniffen“ lautete 2001 der Slogan, der das Gegenteil provozieren sollte. Die aufmerksamen Akteure im gespielten wie im realen Beispiel haben spontan Zivilcourage bewiesen – also moralisch richtig gehandelt, aber nicht unbedingt pragmatisch.
Helfen, ohne sich in Gefahr zu bringen
Udo Vogel, der Präsident des für den Kreis Esslingen zuständigen Polizeipräsidiums Reutlingen, hob bei der Präsentation die obersten Grundregeln der zivilen Courage hervor: helfen, aber sich möglichst nicht in Gefahr bringen, sondern sofort die Polizei rufen. Und zwar lieber einmal zu viel als einmal zu wenig, ergänzte Lothar Rieger vom Referat Prävention des Reutlinger Präsidiums. Zweite Regel: sich um das Opfer kümmern, nicht den Täter attackieren, sondern sich für die polizeiliche Fahndung sein Aussehen, seine Kleidung und weitere Merkmale einprägen.
Bei allem Respekt: Gegen die erste Regel hat der mutige junge Mann vom Zollberg verstoßen, gegen die zweite die wackeren Bürger des Theaterspiels. Auch für Menschen, die bedrängt, belästigt oder angegriffen werden, gibt es Tipps: sich nicht auf verbale oder gar handfeste Konflikte mit dem Täter einlassen, sondern Passanten aktiv um Hilfe ersuchen. Also die reflexartige Neigung zum Weggucken und Wegducken aufbrechen. Wenn sie sich durchsetzt, haben die Pöbler und Schläger freie Bahn. Es wäre ein Offenbarungseid für den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“, von dem Vogel sprach, und eine Niederlage für die polizeiliche Devise „Prävention vor Repression“.
Auch bei Unfällen ist Zivilcourage gefragt
Mit einem anderen – realen – Beispiel zeigte der Polizeipräsident, dass es nicht immer um Straftaten oder ihre Verhinderung gehen muss, wenn Zivilcourage gefordert ist: Ein 32-Jähriger hörte am 27. Juni dieses Jahres Hilfeschreie aus dem Neckar bei Reutlingen-Oferdingen und entdeckte zwei im Wasser treibende Jugendliche. Er alarmierte die Feuerwehr, sprang ins Wasser und zog eine der Jugendlichen an Land. Der andere Jugendliche konnte sich selbst aus dem Fluss retten, der 32-Jährige wurde leicht verletzt.
Bewundernswerter Einsatz mit hohem Risiko
Ein Maximum an Zivilcourage bewies die Betreuerin an der Esslinger Katharinenschule, die bei der Messerattacke in den Pfingstferien einem siebenjährigen Mädchen durch ihr Eingreifen möglicherweise das Leben rettete. Beide wurden schwer verletzt. „Bewundernswert“, sagt Vogel. Aber auch ein Beispiel, dass sich bei Zivilcourage die Grenze zur Selbstgefährdung nicht immer so scharf ziehen lässt wie in den Regeln der Polizei.
SVE-Bus transportiert die Botschaft durch die Stadt
Ein Gelenkbus des Städtischen Verkehrsbetriebs Esslingen (SVE) wird die Botschaften der „Tu was“-Aktion auf seinen Werbeflächen durch die Stadt fahren – „130 Kilometer täglich“, sagte Oberbürgermeister Matthias Klopfer, der couragierte Aufmerksamkeit nicht nur im öffentlichen Raum, sondern auch bei häuslicher Gewalt gefordert sieht.
Für Landrat Heinz Eininger stellt sich beim Thema Zivilcourage – wie bei so vielen anderen – die Frage: Was hält unsere Gesellschaft zusammen? Seine Antwort: die Entscheidung, „Partei zu ergreifen“ gegen Unrecht, und gegenseitige Achtsamkeit, Letztere sozusagen die Mutter der Zivilcourage.
Pflicht zur Hilfeleistung
Diese ist aber nicht nur eine hilfreiche und sozial engagierte Mutprobe, sondern eine Pflicht, die das Gesetz allen Bürgerinnen und Bürgern abverlangt – mit der Einschränkung „ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten“, wie es im Strafgesetzbuch heißt. Andernfalls wird eine „unterlassene Hilfeleistung“ geahndet. Aus dieser Pflicht resultieren unter Umständen aber auch Ansprüche. Der Polizei ist der Hinweis wichtig, dass Hilfeleistende kostenfrei durch die Unfallkasse BW versichert sind, sollten sie körperlich, psychisch oder materiell infolge ihres Hilfseinsatzes geschädigt werden.
Kampagne und Projekt
Aktualität
Die bundesweite Kampagne der Polizei unter dem Motto „Tu was“ ruft bereits seit 2001 dazu auf, Zivilcourage zu zeigen. Die Gesellschaft soll sensibilisiert werden für eine Kultur der Solidarität und Hilfe, des Hinschauens und der gegenseitigen Verantwortung. Da das Thema von bleibender Aktualität ist, wird die Kampagne nun neu aufgelegt. Laut Polizei soll sie bunter und moderner werden.
Prävention
Konkret geplant ist vom Polizeipräsidium Reutlingen ein groß angelegtes Projekt mit Präventionsunterricht vor Ort in den weiterführenden Schulen. Dabei geht es ums Thema Gewalt, um das Zeugen- und Helferverhalten. Außerdem wird für die Öffentlichkeit Informationsmaterial zur Verfügung gestellt. Umgesetzt wird die Kampagne mit Unterstützung des Landratsamts, des Städtischen Verkehrsbetriebs Esslingen, des Vereins Kelly-Insel und des Landeskriminalamts. Weitere Informationen unter www.aktion-tu-was.de.