Die legendäre Contarex-Kamera aus Heslach war klein und solide. Foto: Wolfgang Jaworek

Die Geschichtswerkstatt Stuttgart-Süd hat lokale Industriegeschichte recherchiert. Sie ist spannend und wird im Stadtpalais ausgestellt und keiner sieht’s. Ob die Ausstellung noch vor ihrem Ende öffnen darf, ist fraglich. Immerhin: Man kann online hin.

S-Süd -

 

Die historische Ausstellung zu verschwundenen Firmen in Stuttgart ist seit Oktober, kurz nach ihrer Eröffnung, geschlossen. Doch bis zu ihrem baldigen Abbau hat man seit den neuen Lockerungen nun doch noch Gelegenheit, einen 90-Minuten-Besuch zu buchen. Er kostet nichts und kann online unter www.stadtpalais-stuttgart.de reserviert werden. Und ein Besuch lohnt sich. Denn die Geschichtswerkstatt Süd in Person ihres Vorsitzenden Wolfgang Jaworek hat viel Arbeit und Herzblut in die Erforschung der Geschichte eines Unternehmens gesteckt, das bis in die 1970er Jahre hinein Tausende Menschen im Stuttgarter Süden beschäftigte: Die Firma Zeiss Ikon, der ein Kapitel in der Ausstellung gewidmet ist.

Teil der Rüstungsproduktion

Zeiss Ikon hatte sich 1926 die Stuttgarter Vorgängerfirma von August Nagel, die seit 1908 in Stuttgart Kameras baute, einverleibt. Die Gründung der Zeiss Ikon AG war eine der größten Industriefusionen in der Weimarer Republik, treibende Kraft dahinter war das Unternehmen Carl Zeiss in Jena.

„Eines der wesentlichen Ergebnisse der Zusammenfassung verschiedenster Firmen in der Zeiss Ikon AG war die Bereinigung des Kamerasortiments“, berichtet der Historiker Jaworek in einem Artikel im Süd-Blättle, wo er von seinen Recherchen berichtete. „Gesichert wurden in Heslach bei Zeiss Ikon noch die Übergangsmodelle von Contessa-Nettel – legendär die Deckrullo-Nettel als großformatige Pressekamera – dann bis 1948 die Produktreihen Nettar und Ikonta produziert, ab 1948 dann die komplette Produktpalette.“ Die Produktion befand sich in der Dornhaldenstraße, unweit des Marienhospitals. Die Gebäude stehen heute noch. Zeiss Ikon produzierte ferner in den Bereichen Kinotechnik, Beleuchtungstechnik sowie Sicherheitstechnik. Wenig belastbares Material fand Jaworek über die Beschäftigung von Zwangsarbeitern während der NS-Diktatur und deren Rüstungsproduktion, obwohl beides belegt ist. So gehört zu den Exponaten beispielsweise Marken, die Zwangsarbeiter bei sich tragen mussten.

Schaffen für Palmfett

Immerhin traf der Historiker eine Zeitzeugin, deren Mutter während des Krieges für eineinhalb Jahre als sogenannte Zwangsverpflichtete bei Zeiss Ikon arbeitete: „Sie montierte hier im Krieg eineinhalb Jahre Visiere für Flakgeschütze. Sie hatte sogar einen Packzettel von einem Visier aufgehoben,“ berichtet Jaworek. Der Zettel ist in die Vitrine für die Ausstellung gewandert. Überhaupt kam dem Historiker bei seinen Gesprächen mit Zeitzeugen so allerlei zu Ohren – dass etwa ein Mädchen von der Familie zum Schaffen in die Zeiss-Fabrik geschickt worden war, weil sie gehört hatten: die Mitarbeiten kämen an Palmfett zum Braten heran – „das war so die Denke in den Zeiten der Not im Krieg“, kommentiert er.

Neben den persönlichen Geschichten stehen die Geschichten der Apparate: manches, was Zeiss Ikon im Stuttgarter Süden produzierte, ist heute Legende, wie die Contarex, eine der aufwendigsten und solidesten Kleinbild-Spiegelreflexkameras, die je gebaut wurden.

Das Stadtpalais, das neben der Vitrine mit der Zeiss-Ikon-Historie aus dem Süden noch ein gutes Dutzend weiterer Industriegeschichten aus Stuttgart zeigt, die wir in einer Serie vorstellen, bietet auch ein paar virtuelle Einblicke und Events an. So lädt das Stadtmuseum dazu ein, am Freitag, 19. März, 13 Uhr, Wolfgang Jaworek online zu einem Lunch zu treffen. Der Historiker berichtet dann live bei einer virtuellen Führung über seine Forschungsergebnisse.

Die lebhafte und leibhaftige Vermittlung lokaler Geschichte habe unter Corona stark gelitten, beklagt Jaworek: „Coronabedingt sind alle unsere Führungen ausgefallen.“ Dabei wäre es wichtig, immer wieder auch neue Generationen dafür zu begeistern. Wie ertragreich das sein kann, zeigen die zahlreichen lesenswerten Geschichten auf der Internetseite.

http://geschichtswerkstatt-stuttgart-sued.de. Zeitslot für die Ausstellung „Firmen. https://www.stadtpalais-stuttgart.de/