Die Achse Berlin – Marbach steht: Ulrich Raulff leitet seit 2004 das Deutsche Literaturarchiv in Marbach. Foto: dpa

Marbachs kostbarster Besitz: Mehr als hundert Jahre nach der Entstehung des Romans wird das komplette Manuskript von Kafkas „Prozess“ im Gropius-Bau gezeigt. Für Ulrich Raulff, den Direktor des Deutschen Literaturarchivs, ist das ein Grund zur Freude.

Stuttgart - Die Ausstellung „Der ganze Prozess“ war bereits 2013 in Marbach zu sehen. Von Freitag an wird das Manuskript von Kafkas berühmtem Roman Seite um Seite an einem der großen Ausstellungsorte der Republik aufgeblättert.

Herr Raulff, werden Marbacher Ausstellungen jetzt zu Exportschlagern?
Ihr Wort in Gottes Ohr, das sollte mich freuen. Es ist eigentümlich, dass das in diesem Jahr gleich zweimal passiert: mit „Rilke und Russland“ – unserer vor Kurzem eröffneten Ausstellung, mit der wir erst in die Schweiz und dann nach Russland gehen – und nun eben auch mit dem „Ganzen Prozess“. Wir haben ihn in Marbach gezeigt und dürfen das nun in Berlin wiederholen. Ich hätte nichts dagegen, damit auch nach London oder New York zu gehen. Dort gibt es berühmte Manuskriptsammlungen – denken Sie an die Morgan Library. Vor Jahren wurde dort Prousts „Recherche“ ausgestellt, natürlich würden wir dort gern auch einmal Kafkas „Prozess“ zeigen.
Der Gropius-Bau befindet sich in engster Nachbarschaft zu einem wichtigen Ort der Kafka-Philologie, dem Hotel nämlich, in dem Kafka einst sein Verlöbnis mit Felice Bauer gelöst hat. Wirkt sich das auf die Ausstellung aus?
Sie sprechen von dem Askanischen Hof, den es heute nicht mehr gibt, das war ja alles nach dem Krieg ein Trümmerfeld. Dort wurde das Verlöbnis gelöst, nach einem Verfahren, das Kafka selbst tribunalartig erschien. Aber es kommt hier so vieles zusammen. Die erste Ausstellung im Schliemann-Saal des Gropius-Baus, wo das Manuskript jetzt gezeigt wird, galt dem sagenhaften Schatz des Priamos, des mythischen trojanischen Königs, Schliemann hatte ihn wenige Jahre zuvor bei seinen Grabungen gefunden. Ohne die Analogien übertreiben zu wollen, aber wie das ein Schatz unserer Welt- und Schicksalsgeschichte ist, so ist dies auch Kafkas „Prozess“. Schön, ihn an diesem Ort zeigen zu können.
Ist der in Marbach zuweilen gepflegte Purismus hauptstadtfähig?
Er besteht den Hauptstadt-Test ganz gut. Wir zeigen ein bisschen was drum herum: die Orson-Welles-Verfilmung des „Prozesses“, die Kafka-Bildersammlung des Verlegers Klaus Wagenbach, außerdem eine Auswahl von Werkausgaben in allen möglichen Weltsprachen. Das bietet einen gewissen Schauwert für die weniger puristischen Berliner. Aber das Manuskript selbst präsentieren wir so streng und konzentriert, wie wir das in Marbach getan haben.
Die Achse Berlin–Marbach scheint zu stehen, in der nächsten Woche macht der Bundespräsident auf der Schillerhöhe seinen Antrittsbesuch, sicher nicht, um Ihnen seinen Nachlass zu versprechen?
(Lacht.) Die Verhandlung steht noch bevor. Er kommt auf ausdrücklichen Wunsch, um die Rilke-Russland-Ausstellung zu sehen. Eigentlich sollte er sie ja eröffnen, was aber an Terminproblemen gescheitert ist. Es lag ihm aber sehr am Herzen, das jetzt zu sehen. Denn diese Ausstellung ist gerade dabei, zu einer Legende zu werden.
Sie sind nun im Herzen der Metropole angelangt, wie geht es weiter?
Ich finde es schön, wenn wir mit Ausstellungen über den bisherigen Orbit hinausgehen. Wir erarbeiten gerade mit dem Goethe-Institut eine besonders wanderfreudige Ausstellung zur Übersetzung von Lyrik. Aber im Prinzip realisieren sich unsere Höhepunkte immer noch hier am Ort. Alles andere sind sekundäre Profite, die wir gerne mitnehmen, aber der Uraufführungsort, wenn Sie so wollen unser Bayreuth, bleibt Marbach.