Heißen Tee zum Aufwärmen nehmen viele Obdachlose dankbar entgegen. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Unterwegs im Kältebus mit den Ehrenamtlichen des DRK: Im Winter fahren sie durch Stuttgart und suchen Menschen auf, die auf der Straße leben. Anerkennung dafür gibt es von unerwarteter Seite.

Stuttgart - Eine halbe Stunde kurvt der Kältebus am Sonntagabend schon durch die fast leer gefegten Straßen Stuttgarts, bevor es zum ersten Einsatz kommt. Unter der König-Karls-Brücke in Bad Cannstatt zeltet ein 33-jähriger Mann. Mit dem verwachsenen Irokesen-Haarschnitt und der karierten Stoffhose sieht er aus, als käme er von einem Punk-Konzert. Und tatsächlich dröhnt Punkmusik aus dem Iglu-Zelt. Zwei Freundinnen sitzen bei ihm, außerdem zwei Hunde, die sich lautstark bemerkbar machen.

Den Kältebus kennen die jungen Leute schon gut. „Voll nice“ sei das, dass sie vorbeikämen, sagt eine der beiden Frauen. Dankbar nehmen sie Schlafsäcke in Empfang, Schokoriegel, trinken Tee aus den großen Thermoskannen, die die Besatzung mitgebracht hat. Zwei Beutel Hundefutter gibt es obendrauf. Neun Jahre lang lebe er schon auf der Straße, erzählt der Mann, der außer dünnen Socken nichts an den Füßen trägt.

Unterschlupf finden in einer der beiden Notunterkünfte der Stadt, das komme nicht in Frage. „Da klauen sie mir nur die Schuhe“, sagt er. Solche Antworten sind nicht ungewöhnlich. Laut Stefan Spatz, dem Leiter des Sozialamts, schlafen viele Obdachlose freiwillig draußen. „Solange sie selbst über sich bestimmen können, kann man sie auch nicht zwingen, in eine Unterkunft zu gehen“, sagt er. Die Mehrbettzimmer der Notunterkünfte seien eben nichts jedermanns Sache.

Der Sozialamtsleiter bezeichnet den Kältebus als „Seismograph“

Trotzdem gelte die Prämisse, dass jeder Obdachlose einen Platz habe in Stuttgart. Neben den bestehenden Notunterkünften an der Hauptstätter Straße und der Villastraße stehe bald auch eine dritte Unterkunft in Sillenbuch bereit.

Der von der Stadt Stuttgart finanzierte Kältebus fährt seit 2012 durch die Straßen, im ersten Jahr besetzt mit Mitarbeitern des Sozialamts, seit 2013 mit Ehrenamtlichen des Deutschen Roten Kreuzes (DRK). Als „Seismograph“ bezeichnet Sozialamtsleiter Spatz den Bus. Durch ihn könne man besser einschätzen, wie es um die Obdachlosen der Stadt bestellt ist.

Für Matthias Jürgens, der heute im Einsatz ist, sind die Fahrten Routine. Traumwandlerisch fährt er die Stationen ab, an denen sich die Obdachlosen gewöhnlich aufhalten. Im flotten Schritt geht es zusammen mit seiner Kollegin Meriem Benyebka zu den vermuteten Schlafstätten. Mal treffe man jemanden an, mal nicht.

Jugendliches Partyvolk lobt die Helfer

Am Cannstatter Bahnhof ist heute nichts los. In einer Bankfiliale in der Nähe trügt der Eindruck. Eine Person sitzt in gebückter Haltung hinter einem Bankautomaten – doch es ist kein Obdachloser, sondern ein Drogenabhängiger, der sich gerade eine Spritze setzt.

Neben den 23 Stationen im Stadtgebiet reagiert die Kältebus-Besatzung auch auf Hinweise von Bürgern. Während es sich andere auf der Couch vor Tatort und Tagesthemen bequem machen, fahren Jürgens und Benyebka durch die Nacht. Anderen helfen, so einfach beschreibt der 40-Jährige seinen Antrieb. Anerkennung gibt es dafür teils von unerwarteter Seite, nämlich vom Stuttgarter Partyvolk: Bei Einsätzen am Wochenende in der Stadtmitte klopften Jugendliche den Helfern auf die Schulter: „Stabile Aktion, Bro“, habe neulich einer gesagt, erzählt Jürgens und lacht. Der Kältebus sei bekannter geworden in der Bevölkerung, glaubt Jürgens, eine Spendenaktion vor Weihnachten für die Obdachlosen habe eine überwältigende Resonanz gefunden. Mittlerweile ist der Bus am Kräherwald angekommen. Ein Mann übernachtet dort seit Jahren in einem kleinen Zelt. „Ah, Kältebus!“, sagt er erfreut, als sich Jürgens zu erkennen gibt.

Von dankbar bis abweisend, selten auch aggressiv reagieren die Leute

Es gibt wieder heißen Tee und Schokoriegel, auf Nachfrage nimmt er auch einen Schlafsack und zwei Paar Socken an. Der Mann bleibt jedoch hinter der Zeltwand versteckt und zeigt sich nicht. Geredet wird wenig, trotzdem wirkt der Austausch vertraut. Es wird langsam kälter oben am Kräherwald, erste Schneeflocken fallen.

Längst nicht alle Obdachlosen brauchen oder wollen Hilfe. Von dankbar bis abweisend, selten auch aggressiv reagierten die Leute, sagt Jürgens, da sei alles mit dabei. 31 Menschen werden er und Benyebka in dieser Nacht antreffen. Ein Mann, der auf dem Hoppenlaufriedhof schläft, lehnt Angebote dankend ab, und auch eine Frau, die in der Stadtbahnhaltestelle Börsenplatz nächtigt, will nur ihre Ruhe. Anders sieht es auf der Partymeile aus: Ein rumänisches Paar liegt vor dem Gewerkschaftshaus auf einer Matratze, bedankt sich herzlich für den Tee. Vor einem Elektroladen ein paar Häuser weiter blinzeln zwei junge Männer schlaftrunken aus ihrem Lager, auch sie nehmen den Tee gerne an. Bis 2 Uhr fahren Benyebka und Jürgens noch durch die Stadt. Dann ist für sie Feierabend. Die Obdachlosen haben dann noch die halbe Nacht vor sich.

Hinweis des Sozialamts: Wer Obdachlose in akuter medizinischer Notlage antrifft, kann dies unter der Notrufnummer 112 melden. Wer auf Obdachlose aufmerksam machen will, die draußen schlafen, kann diese der Kältebus-Hotline melden unter der Telefonnummer 07 11-21 95 47 76.