Schöne Grüße aus dem Club Med in St. Louis von Jurek Becker (1993) Foto: Suhrkamp Verlag

Hier kommt das ultimative Buch zur Urlaubsreisezeit: Zeit seines Lebens hat der deutsche Schriftsteller Jurek Becker geradezu manisch Postkarten verschickt. Ein prachtvoller Band präsentiert nun eine große Auswahl davon, die das Herz aufgehen lässt.

Stuttgart - Was tun gegen Übellaunigkeit? Manchmal befällt sie uns ja völlig unerwartet, meist sogar weitgehend grundlos. Die Gründe, übellaunig zu sein, suchen wir uns zumeist erst nachträglich; vom Wetter über schmerzende Füße oder inkompetente Vorgesetzte bis hin zu doofen Nachbarn oder Rotweinflecken auf dem Teppich kommt eigentlich alles infrage und bietet auch ständig Nachschub für weiteres Wehgenöle. Denn siehe, wir wollen uns grämen für und für.

Wenn uns jetzt der Suhrkamp-Verlag nicht doch noch ein ultimatives Mittel dagegen geliefert hätte, sofort wirksam, lang anhaltend, selbst für Kinder geeignet: Jurek Beckers private Postkartensammlung, 21 Jahre nach seinem Tod veröffentlicht, sorgfältigst ediert, wunderschön gestaltet, umwerfend komisch. Allein der Buchtitel sagt schon alles: „Am Strand von Bochum ist allerhand los“. Es ist zu schön. Es muss tatsächlich alles wahr sein.

Muss man erläutern, wer Jurek Becker war? Wahrscheinlich muss man es, so lang nach seinem Krebstod 1997 im Alter von sechzig Jahren. Geboren 1937 als Jude im polnischen Lódz, überlebte er den Holocaust und gelangte als Schriftsteller zu einigem Erfolg und Ehren in der DDR. Sein Roman „Jakob der Lügner“ aus dem Jahr 1969 ist ein Juwel der deutschen Nachkriegsliteratur, und wir wagen hier die Prophezeiung, dass in hundert Jahren sehr, sehr viel von der deutschen Nachkriegsliteratur längst in gnädiger Vergessenheit versunken sein wird, aber „Jakob der Lügner“ wird immer noch gelesen werden. Als die DDR 1976 den Regimekritiker Wolf Biermann aus dem Land vertrieb, protestierte auch Jurek Becker dagegen. Seine Bücher durften fortan in der DDR nicht mehr verlegt werden, Becker durfte nach Westberlin ziehen. Hier wurde er einem größeren Publikum vor allem dadurch bekannt, dass er in den neunziger Jahren die Bücher für eine tolle ARD-Anwaltsserie verfasste, „Liebling Kreuzberg“. Dann der frühe, traurige Tod.

Auch das Schreiben von Postkarten kann eine Kunst sein

Dass Becker manche persönliche Eigenart hatte, ist bekannt. Dass zu diesen Eigenarten die Manie zählte, seiner Familie, den Freunden und Bekannten ständig Postkarten zu schreiben, ist ebenfalls schon bekannt, seitdem einige dieser Freunde (zum Beispiel der Schauspieler Manfred Krug, verstorben 2016) solche Postkarten vereinzelt veröffentlichten. Nun aber liegt eine Sammlung dieser Karten in einer Fülle und Dichte vor, verfasst von 1978 bis eben 1997, die alles bisher Bekannte in den Schatten stellt. Die Veröffentlichung kam zustande, weil sich Christine Becker, die mit Jurek seit 1986 verheiratet war, mit gehörigem zeitlichem Abstand zur Veröffentlichung entschließen konnte. Und dass Abstand nötig war, leuchtet bei der Lektüre sofort ein – die Karten sind in der Regel dezidiert privat. Erst die Distanz macht daraus Literatur. Aber das ist dieses Buch nun ganz bestimmt: Literatur. Herrliche Literatur.

Jurek Becker hat aus dem Postkartenschreiben eine Kunstform gemacht. Zum Ersten erwarb er vorzugsweise jene Kunst-, Kitsch-, Ulk- und Reklame-Postkarten, die seit ungefähr Anfang der achtziger Jahre an allen Kiosken zu erwerben waren (und bei denen man immer dachte, wer kauft bloß diesen Schmonz – nun, zum Beispiel Jurek Becker war’s). Zum Zweiten nutzte er das zur Verfügung stehende Schreibfeld, um eine eigene Textform zu pflegen, Postkartenpoesie, sozusagen eine Frühform des Twitterns, immer irgendwie heillos verknappt, aber höchst geistreich. Zum Dritten kultiviert er in dieser Kürze den Aberwitz, die Groteske, das Panoptikum.

Er will allen Trabbis die Reifen zerstechen

So schreibt er am 9. März 1990 aus Chicago (USA) an seinen Sohn: „Lieber Lonni, Chicago ist ein böser eisiger Wind, der Dich ständig ins Hotelzimmer treibt. Dort mußte ich die Wahlergebnisse aus der DDR hören. Nachdem ich den Fernseher zertrümmert und das Zimmermädchen in den Fahrstuhlschacht gestoßen hatte, bin ich auf die Straße gegangen, um allen Trabbis die Reifen zu zerstechen. Aber die feigen Schweine haben sich alle versteckt. Irgendwann müssen die wieder rauskommen, und dann beginnt die Stunde der langen Messer! In Trübsinn und Liebe, Dein Vater.“

Nun gut, dieser kleine zugespitzte Wutausbruch über den unerwarteten CDU-Sieg bei den ersten und einzigen freien DDR-Volkskammerwahlen im März 1990 mag sich noch strukturiert lesen. Noch besser wird die Sache bei den vielen Karten, die Becker an seine Partnerin Christine geschrieben hat. Nicht nur, dass er sich fast jedes Mal eine neue Anrede für sie einfallen ließ, wobei „Verehrte Liebste“ am 11. Juni 1989 und „Du alte Dampfnudel“ fünf Tage später zweifellos einen interessanten Kontrast abgeben (andere Varianten: „Mein Fischbrötchen“, „Du Laugenbrezel“, „Meine alte Berghütte“, „Du alte Grauzone“ oder „Mein schneller Brüter“).

Alte Männer blasen in Ringeltuten

Nein, Jurek schreibt selbst dann Karten an Christine, wenn sie gemeinsam auf Reisen sind, zu lesen dann nach der ebenfalls gemeinsamen Rückkehr – zum Beispiel am 11. Mai 1995: „Du kühne Tat, falls Du es noch nicht gemerkt hast – Du bist wieder zu Hause. Sieh nur aus dem Fenster – das ist nicht die Karibik! Zum Abendbrot gibt es nicht mehr Lobster, sondern Käsebrote.“ All das und noch viel mehr präsentiert uns der Verlag nun auf fast 400 Seiten, beinahe jede Karte mit Motiv plus Text; häufig nimmt der Text ja auch Bezug aufs umseitige Bild. So schreibt Becker am 30. November 1989 aus Tel Aviv auf einer Karte, die einen in ein vielfach gebogenes Horn blasenden, betagten jüdischen Geistlichen zeigt: „Du alter Ziegenkäse, es ist unglaublich, in welchem Alter die Leute hier noch arbeiten müssen. Bei uns wäre der Mann doch längst schon auf Rente, aber hier muß er blasen und blasen, auch wenn er die Ringeltute kaum noch halten kann. Unbegreifliches Israel. Dein Kuß, Jurek.“

Man kann viele Abende lang in diesem Buch blättern und seinen Spaß haben. Und wessen Übellaunigkeit so nicht verfliegt, der hat nun wirklich Grund, übellaunig zu sein. Eine Lebenshaltung, die Jurek Becker offenbar selbst dann noch nicht hatte, als sein Leben ihm schrecklichen Anlass dazu gab: Vom 31. Januar 1997, sechs Wochen vor seinem Tod und im Zeichen der Krankheit, stammt die letzte hier zu lesende Karte: „Du klarer Fall, wenn man mich fragen würde, ob der Tag, an dem wir uns zum erstenmal begegnet sind, ein besonderer Tag in meinem Leben war, würde jede Faser meines Körpers rufen: Ja, ja, ja! Und zu gern würde ich erläutern, worin das Schicksalhafte dieses Tages lag. Doch woran immer es liegt – es stellt mir niemand so grundlegende Fragen. Der eine will wissen, warum ich mich so lange nicht melde, der nächste, ob ich Lust auf Nudelsuppe habe, der dritte, wie es mir denn so geht. Oh, sancta simplicitas! Dein J“.

Jurek Becker: Am Strand von Bochum ist allerhand los. Postkarten. Herausgegeben von Christine Becker. Suhrkamp Verlag, Berlin. 398 Seiten, 32 Euro.