Viele junge Parteimitglieder sind in Wahlkampfzeiten besonders aktiv – auch im Haustürwahlkampf. Foto: Hanna Spanhel/Tilo Frank

Mit 15 Jahren haben viele Jugendlichen anderes im Kopf als Politik. Annalena und Leon aus Mannheim sind anders. Wir haben sie beim Haustürwahlkampf in Mannheim begleitet.

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Mannheim - Kurz vor der ersten Haustür fängt es an zu nieseln. Kein idealer Tag für Wahlkampf, aber der Zeitplan der Mannheimer Jusos ist straff und jeder Tag wichtig. Annalena Wirth, 15, spannt einen Regenschirm auf und zieht ein rotes Klemmbrett mit Flyern aus ihrer Tasche. Auf dem Mobilisierungsplan der SPD haben sie den Lindenhof ausgewählt, einen Stadtteil südlich der Mannheimer Innenstadt, den sie sich jetzt zu viert vornehmen. Für Annalena ist es der erste Haustürwahlkampf, sie ist seit Januar Mitglied bei der Jugendorganisation der SPD.

Im ersten Wohnhaus haben sie kein Glück. Vier Stockwerke, zwölf Klingeln und kaum jemand, der aufmacht. „Brauchen Sie gar nicht weiterreden“, sagt eine ältere Frau, als Annalena sich vorstellt. Die Frau mit den braunen Dauerwellen macht die Türe zu. „Falsche Partei“, sagt sie noch. Annalena wirft den anderen einen Blick zu und zuckt mit den Achseln.

Der Lindenhof ist ein gemischtes Viertel, drei Bezirksräte sind von der CDU, drei von der SPD. Die Arbeitslosigkeit hier ist eher niedrig, im Osten des Stadtteils steht das Werk von John Deere, der größten Traktorfirma Europas. „Es geht nicht darum, die Leute, die niemals SPD wählen würden, von der SPD zu überzeugen“, sagt Annalena. „Wir wollen über das Programm informieren und die Leute mobilisieren, überhaupt wählen zu gehen.“

Haustürwahlkampf ist kein Kinderspiel: die vielen Treppen, die Skepsis der Leute

Nächster Block, nächste Klingelanlage. Irgendjemand im Haus drückt den Summer, als Annalena ihren Spruch in die Anlage sagt, und sie können ins Treppenhaus. Erstes Stockwerk: zwei Türen, zweimal klingeln, kurz abwarten. Öffnet keiner, legen sie einen Flyer auf die Matte. Im ersten Stock macht ein weißhaariger Herr im Hausmantel die Tür erst auf, als die Wahlkämpferinnen schon vorbei sind, und beobachtet sie durch den Spalt. Im dritten Stock öffnet eine Frau, nimmt den Flyer entgegen und fragt: „War’s das?“

Haustürwahlkampf ist kein Kinderspiel. Die vielen Treppen, der Regen, die Skepsis der Leute, und dann dieser schmale Grat zwischen freundlicher Wahlwerbung und Belästigung. Annalena macht das nichts aus. Sie sagt, sie habe zum ersten Mal das Gefühl, Politik mitzugestalten. Nach Fukushima hat sie in der Klasse so engagiert diskutiert, dass ihre Lehrerin gesagt hat, sie solle mal in eine Partei eintreten. Damals war sie 9.

Heute steht sie hinter Martin Schulz, weil er ihr sympathisch ist und weil er die Grundsätze vorantreibe, die ihr wichtig sind – und die ihre Partei in den letzten Jahren etwas vergessen habe. Europa, Digitalisierung und vor allem soziale Gerechtigkeit. „Jeder soll die gleichen Chancen haben, egal wie er aufwächst.“ Sie kann nicht verstehen, warum der Hype um Martin Schulz zurückgegangen ist. „In die Partei hat seine Kandidatur jedenfalls Schwung gebracht.“

In den vergangenen Jahren gibt es eine Politisierung – auch bei den Jugendlichen

Und viele neue Mitglieder. Seit Jahresbeginn verzeichnet die SPD bundesweit 22 000 Eintritte (insgesamt: 440 000), bei den Jungsozialisten erhöhte sich die Mitgliederzahl im selben Zeitraum um rund 5000 (insgesamt: 74 800). Die Kandidatur von Schulz ist nicht der einzige Faktor, der junge Menschen mobilisiert. Bereits seit einem Jahr treten vergleichsweise viele Jugendliche ein. Nicht nur in die SPD, auch die anderen Parteien und deren Jugendorganisationen haben Zulauf.

In den letzten Jahren gebe es eine Politisierung der Gesellschaft und eben auch der Jugendlichen, sagt Jan van Deth, Politikwissenschaftler an der Universität Mannheim. Van Deth forscht seit Jahren zum Verhalten von Jugendlichen überall in der Welt, und er sagt, der Grund für das politische Engagement seien aktuelle Ereignisse: Der Brexit zum Beispiel, die Wahl von Donald Trump, die Kandidatur von Marine Le Pen in Frankreich. „Wir sehen in all diesen Ländern, dass einerseits rechtspopulistische Parteien junge Leute rekrutieren und sich andererseits eine Art von Gegenbewegung entwickelt.“

Leon Ebel, 15, geht an diesem Tag am anderen Ende der Stadt, in Rheinau, für die CDU von Haustür zu Haustür. Auch Leon ist erst vor ein paar Monaten eingetreten, als er endlich alt genug war. Er lese seit Jahren Zeitung und interessiere sich schon lange für Politik. Für ihn sei eigentlich keine andere Partei infrage gekommen. „Wenn wir uns die vergangenen Jahre anschauen, in denen die CDU ja regiert hat, sehen wir, wie gut es unserem Land mittlerweile geht.“ Sinkende Arbeitslosigkeit, boomende Wirtschaft und eine konservative Bildungspolitik zählt er auf – das seien wichtige Punkte für ihn.

Auch die Junge Union, die Jugendorganisation der CDU (insgesamt 106 400 Mitglieder), legt wieder zu: Nach jahrzehntelangem Rückgang übersteigen die Eintritte seit April die altersbedingten Austritte. In Mannheim gab es allein in diesem Jahr 18 Neueintritte im Kreisverband – bei knapp 200 Mitgliedern insgesamt ein „deutlicher Zuwachs“, sagt der Kreisvorsitzende. Eine Rolle spiele dabei sicher auch Nikolas Löbel, der Mannheimer CDU-Kandidat, der mit 31 Jahren selbst noch Vorsitzender der Jungen Union im Land ist.

Rechtspopulsimus findet Leon beängstigend

Leon Ebel und die fünf anderen, die an diesem Tag in Rheinau unterwegs sind, wollen massiv werben, gerade weil es so oft heiße: Die Wahl ist langweilig. „Es geht darum, die zu mobilisieren, die das Potenzial haben, CDU zu wählen“, sagt Leon. „Und wir wollen ein Erstarken der AfD verhindern.“ Also sind sie in den Wochen vor der Wahl fast jeden Tag unterwegs, hängen Plakate auf, stehen an Infoständen, verteilen Flyer. Man müsse ja nicht der Generation 60 plus angehören, um ein Stück weit konservativ zu sein, sagt Leon. Er habe auch nichts gegen die Ehe für alle. Wenn jemand ihm mit Klischees komme, sagt er einfach, dass es ja Angela Merkel war, die den Atomausstieg in die Wege geleitet hat.

„Diese ganze Asylpolitik“, sagt eine Frau im rosa T-Shirt an ihre Haustüre gelehnt, „da greift die AfD viele Leute mit ab.“ Ob sie selbst rechts wähle?, fragt Leon. „Um Himmels willen. Wenn, dann würde ich Schulz wählen, weil der so viel gemacht hat.“ Ein paar Häuser weiter öffnet ein Mann die Tür seines Reihenhauses, macht gleich wieder zu, sagt noch, dass es ja auch eine Alternative gebe.

„Ich denke, es gibt Leute, die von der Globalisierung nicht profitieren – und die suchen dann nach den einfachsten Lösungen und glauben, was über Facebook verbreitet wird. Zum Beispiel, dass Flüchtlinge ihnen die Jobs wegnehmen“, sagt Leon. Rechtspopulismus findet er beängstigend. Und er fände es gut, dass Angela Merkel 2015 die Menschen aus Krisengebieten nicht einfach auf der grünen Wiese stehen gelassen habe. „Inzwischen werden ja Wirtschaftsflüchtlinge entschiedener abgeschoben.“

In der Forggenseestraße stößt CDU-Kandidat Nikolas Löbel zu seinen jungen Wahlkämpfern. Mannheim-Rheinau ist ein ruhiger Stadtteil, viele Reihenhäuser, kleine Vorgärten. Die RWE hat hier ein großes Umspannwerk. Bei den Landtagswahlen 2016 bekam die AfD im Bezirk 23 Prozent, obwohl die Hälfte der Bewohner Migrationshintergrund hat. „Es ist interessant, wie sich die Stimmung hier von Jahr zu Jahr ändert“, sagt Löbel. „Vor der Bürgermeisterwahl 2015 haben sie uns zum Kaffee reingebeten, im Jahr danach wurden wir wegen der Flüchtlingspolitik vom Grundstück gejagt. Jetzt ist es wieder ruhiger.“

Viele der Menschen, die hier leben, sind nach wie vor Arbeiter

Eigentlich hat in Mannheim ja die Sozialdemokratie Tradition. Schon 1890 schloss sich ein Verein von Fabrikarbeitern und Tagelöhnern mit einer örtlichen Partei zur SPD zusammen. Fast immer regierte hier seither ein sozialdemokratischer Oberbürgermeister, auch heute. Und viele der Menschen, die hier leben, sind nach wie vor Arbeiter bei Daimler, Roche oder Alstom. Doch bei der Landtagswahl im vergangenen Jahr hat die AfD im sozialdemokratisch geprägten Norden der Stadt fast 30 Prozent geholt. Die SPD habe ihre letzte rote Bastion im Land verloren, konnte man in den Zeitungen lesen. „Mein Mann und ich sind Arbeiter“, sagt eine Frau an einer Haustür im Lindenhof zu Annalena. „Wir standen der SPD immer sehr nahe. Aber für uns machen die nicht mehr viel.“

Fragt man Stefan Rebmann, der als Mannheimer für die SPD im Bundestag sitzt und wieder kandidiert, sagt er, es läge an den Arbeitsmarktreformen unter Kanzler Schröder. „Das traf viele Arbeiter ins Mark, das nehmen sie der SPD immer noch krumm.“ Rebmann ist Elektriker und spricht Mannemerisch. Ja, auch die Integration von Flüchtlingen sei hier ein Thema. Aber man sollte die Ängste der Leute nicht ernst nehmen, sondern wahrnehmen. „Wenn ich die Ängste meiner Töchter ernst genommen hätte, könnten sie heute noch nicht schwimmen.“

Für Annalena Wirth sind solche Ängste ein Thema der älteren Generation. „In meinem Umfeld gab es auch ältere Leute, die die AfD gewählt haben. Junge Leute wie ich, die mit Kindern mit Migrationshintergrund aufwuchsen, sind da viel toleranter.“ In ihrem Freundeskreis und in der Klasse seien es eher Themen wie die Wahl von Trump oder der Rechtspopulismus, über die geredet würden. „In den letzten Jahren haben viele Parteien wenig für die Themen getan, die Jugendliche interessieren“, sagt Annalena, „das verändert sich so langsam ein bisschen.“

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