Annika Sigle beim Unterricht in der Waiblinger Michaelskirche Foto: Gottfried Stoppel

Die 17-jährige Annika Sigle spielt begeistert Kirchenorgel – trotz einer Hörbehinderung. Im kommenden Jahr will sie die Prüfung angehen, die notwendig ist, um in Gottesdiensten zu spielen.

Weinstadt - Wenn Annika Sigle zu Hause auf ihren Instrumenten übt, setzt sie sich wahlweise ans Klavier, packt ihre Trompete aus oder steckt sich den Schlüssel der Großheppacher Kirche in die Jackentasche. Denn das dritte Musikinstrument, das die 17-Jährige mittlerweile spielt, ist zu groß, um es in ein Wohnhaus zu bringen: „Kirchenorgel spiele ich seit ich 14 Jahre alt bin“, erzählt sie.

Spezielle Schuhe helfen die Pedale zu bedienen

Zum Unterricht kommt sie nach Waiblingen, wo sie in der Michaelskirche bei dem Kantor Immanuel Rößler Unterricht hat. Dieser ist sichtlich angetan vom Können seiner Schülerin, die ganz souverän am Spieltisch der Orgel sitzt, der neben den Manualen mit einer Vielzahl von Schiebern und Schaltern bestückt ist. Um die Pedale besser bedienen zu können, zieht sich Annika Sigle andere Schuhe an. „Die haben Absätze. Mit denen geht es besser.“ Noch ein Lied und die Probe ist für diesen Abend beendet. „,Es ist ein Ros’ entsprungen’ passt doch gut in diese Zeit, oder?“, fragt Immanuel Rößler. Annika nickt und schon erfüllt der Klang der Orgel die abendliche Kirche. „Ich bin immer berührt, wie so ein zierlicher Mensch ein so großes Gebäude mit Musik ausfüllen kann“, sagt Birgit Sigle, die ihre Tochter von der Probe abholt.

Im kommenden Jahr will Annika Sigle die anspruchsvolle C-Prüfung für die Orgel angehen. „Dann darf ich in Gottesdiensten spielen“, sagt die Schülerin, die seit der achten Klasse die Schule beim Jakobsweg in Winnenden besucht. Der Grund dafür ist eine Hörbehinderung.

„Ich habe eine Hochtonsenke“, erklärt sie. Diese mache es ihr ohne Hilfsmittel unmöglich, hohe Töne und Zischlaute wie die Buchstaben F und S oder ein Sch zu hören. „Wenn ich sie zum Beispiel frage, ob sie ein Eis möchte, hört sie, ob sie ein Ei möchte“, sagt ihre Mutter. Die Winnender Schule zählt zur Paulinenpflege und ist auf Schülerinnen und Schüler mit Hörfehlern eingerichtet. „Nebengeräusch machen es mit Hörgeräten schwer, etwas zu verstehen. In der Schule beim Jakobsweg sind die Räume so ausgestattet, dass Geräusche gedämmt werden“, berichtet Annika Sigle. Und außerdem seien es die Lehrer gewohnt, mit Menschen zu arbeiten, die entweder gebärden oder von den Lippen ablesen. Außerdem werde sie an der Winnender Schule nicht mehr wegen ihrer Hörgeräte angestarrt. „Brillen sind scheinbar normaler als Hörgeräte, jedenfalls fällt man damit nicht auf“, meint Annika Sigle.

Neben dem Abitur steht die Prüfung zur Kirchenmusikerin an

Die junge Organistin musiziert damit jedenfalls mit Begeisterung und will auf jeden Fall beruflich mit Musik zu tun haben. „Ich mache zwar das Abitur an einem Wirtschaftsgymnasium, aber mir stehen alle Berufe offen.“ Mit der C-Prüfung würde sie die höchste Stufe eines nichtprofessionellen Kirchenmusikers erklimmen. „Da gehört sehr viel Wissen dazu, der Aufbau der Liturgie oder des Gesangbuches und viel Musiktheorie“, sagt Annika Sigle. Schließlich soll sie als Organistin später zusammen mit einem Pfarrer oder einer Pfarrerin die Musik für die Gottesdienste zusammenstellen und mit der Orgel begleiten.

Auf die Elftklässlerin kommt also in den nächsten Jahren einiges zu. Das Abitur steht zudem auf dem Plan. Die Selbstverständlichkeit und Gelassenheit, mit der sie das alles angeht, ringt Respekt ab. Immerhin darf sie sich Kirchenmusikerin nennen, sobald sie die C-Prüfung bestanden hat. Das muss man im Alter von 17 Jahren erst einmal schaffen.