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Der Ex-Bundestrainer über Defensivfußball bei der WM und Schwaben in Südafrika.

Kapstadt - Jürgen Klinsmann ist seit 2006 nicht mehr Teamchef der deutschen Nationalmannschaft, gerade deshalb fiebert er besonders bei Spielen der Auswahl mit. "Die Unbekümmertheit ist ihre größte Stärke", sagt der Ex-Stuttgarter.

Jürgen Klinsmann, Sie haben als Teamchef bei der Heim-WM 2006 das Sommermärchen geschaffen. Mit welchen Emotionen begleiten Sie die deutsche Mannschaft vier Jahre später in Südafrika?

Ich fiebere richtig mit mit dieser Mannschaft. Ich weiß, was ein Sieg für die Mannschaft, für die Trainer und auch für das gesamte Umfeld bedeutet. Ich weiß auch, wie viel Arbeit geleistet wurde auf allen verschiedenen Ebenen, und deshalb freue ich mich ungemein über jeden Sieg. Ich habe eine ganz enge Bindung an die deutsche Nationalmannschaft - ich war dort viele Jahre Spieler und zwei Jahre Trainer.

Sie freuen sich mit, Sie leiden mit?

Die Mannschaft hat einen tollen Lernprozess hinter sich. Das Spiel gegen England war einfach fantastisch. Das haben sogar die Engländer anerkannt. Ich war am Tag danach mit Gary Lineker (englischer Ex-Nationalspieler, Anm. d. Red.) im TV-Studio, da gab es kein Nachkarten wegen des nicht gegebenen Tors, sondern nur anerkennende Worte.

Was zeichnet die deutsche Elf besonders aus?

Die Unbekümmertheit ist ihre größte Stärke. Die Spieler machen sich keinen großen Kopf, auch nicht nach dem 0:1 gegen Serbien. Die wissen um ihre Qualität. Und es herrscht eine gute Chemie zwischen ihnen, das spürt man.

Ganz im Gegensatz zu anderen namhaften Teams wie England, Frankreich und Italien?

Die Italiener stecken total im Fiasko, die haben sich vor der WM schon schlechtgeredet. Die Engländer hatten viele Probleme untereinander, auch schon vor der WM. Diese Konflikte haben sie ins Turnier geschleppt.

Was freut Sie am meisten am deutschen Team?

Dass wir in Mesut Özil wieder einen Spielertyp haben, der die tödlichen Bälle spielen kann. Darauf haben wir lange gewartet. Ich hoffe nur, dass man ihm nicht zu viel Last auf die Schultern packt.

"Löw besitzt menschliche Größe"

Haben Sie da Bedenken bei Joachim Löw?

Als ich ihm die Mannschaft 2006 übergeben habe, war ich absolut überzeugt, dass er unsere Philosophie konsequent weiterführen wird. So ist es gekommen.

Was schätzen Sie an Löw?

Neben all seinen fachlichen Qualitäten besitzt er menschliche Größe, er stellt sich nie in den Vordergrund und ist absolut angenehm im Umgang.

Dann passt ja alles. Fehlt nur noch ein Sieg gegen Argentinien?

Das wünsche ich der Mannschaft. Da kommt ein richtiges Kaliber auf sie zu. Das wird eine echte Reifeprüfung.

Wie kann sie die bestehen?

Argentinien hat eine sehr, sehr gute Mannschaft, sie ist aber auch schlagbar. Sie haben einen überragenden Sturm, da leuchten dir die Augen. Aber in der Defensive haben sie Schwächen, das hat Mexiko in der ersten halben Stunde eindrucksvoll aufgedeckt. Und ich weiß, Sie haben großen Respekt vor uns.

Also keine Angst vor großen Namen?

Du musst das spielen, was deinem Naturell am meisten entspricht, und wir sind einfach eine gute Angriffsmannschaft. Aber wir müssen auch aufpassen.

"Uns könnte ein Mann wie Ballack fehlen"

Auf Lionel Messi, den Überflieger? Bisher hat er nicht so überzeugt.

Das kann sich schnell ändern. Außerdem haben sie so viele gute Stürmer. Wenn Messi einen schlechten Tag hat, dann macht halt ein anderer die Tore. Wir sollten nicht meinen, wenn man Messi zudeckt, dann ist das die halbe Miete. Für mich stellt sich aber noch eine andere Frage.

Sagen Sie es uns.

Ich frage mich: Wie reagiert diese junge deutsche Mannschaft auf einen Rückstand? Dann reden wir womöglich schnell über das Thema Erfahrung.

Sie meinen Michael Ballack?

Wenn sie in Rückstand geraten, kommt es darauf an, ob sie den totalen Willen und den Charakter haben, um so ein Spiel zu drehen. Dann könnte uns ein Mann wie Michael Ballack fehlen.

Und bei einem Sieg - was ist dann drin?

Sie meinen den WM-Titel? In K.-o.-Spielen ist alles möglich. Aber auch eine Niederlage gegen Argentinien sollte niemand dieser Mannschaft übelnehmen. Sie hat wegen ihres jungen Alters einigen Kredit verdient. Sie ist in der Entwicklung und hat eine glänzende Perspektive. Das haben wir anderen Ländern voraus.

Sie meinen wieder England, Frankreich und Italien?

Genau, bei all diesen Ländern kommt kaum Nachwuchs nach. Schauen Sie, von der englischen Mannschaft, die vergangenes Jahr das Finale der U-21-EM gegen Deutschland verloren hat, war nur ein einziger Spieler im WM-Kader für Südafrika. Und von den anderen aus dieser Mannschaft spielen die wenigsten in der englischen Premier League.

"Jogi passt ideal zur Mannschaft"

Vorteil Deutschland?

Absolut. Gary Lineker hat zu mir gesagt: Jetzt haben wir wieder eine Generation verschlafen. Bei uns ist das anders. Da kommen unglaublich viele Talente nach. Dafür genießen wir weltweit einen unglaublich großen Respekt.

Das war auch schon anders - bis der damalige DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder das Nachwuchskonzept in die Wege geleitet hat.

Absolut. Da hat sich Mayer-Vorfelder große Verdienste erworben. Und als ich 2004 die Nationalmannschaft übernommen habe, da hat er uns machen lassen, gegen viele, viele Widerstände.

Die spürt zurzeit auch Ihr Nachfolger Joachim Löw. Befürchten Sie, dass er nach der WM hinwirft?

Mein großer Wunsch ist es, dass Jogi weitermacht, jetzt erst recht. Er muss Bundestrainer bleiben. Jetzt ist zu unserer Mannschaft von 2006 eine neue Generation hinzugekommen, die sich erste Sporen verdient. Sie hat bereits wertvolle Erfahrungen gesammelt. Gerade jetzt ist es wichtig, unsere Philosophie des Offensivfußballs weiterzuführen. Jogi passt ideal zu dieser Mannschaft.

Versuchen Sie, Ihn zum Weitermachen zu überreden?

Wir sprechen regelmäßig miteinander, auch jetzt vor dem Spiel gegen Argentinien. Aber Einfluss nehme ich nicht. Das ist allein seine Entscheidung.

Sie sehen als Experte für RTL, BBC und den US-Sender ESPN viele Spiele in Südafrika live. Wie beurteilen Sie das Niveau dieser WM?

Leider fühlen sich viele Trainer dem Defensivfußball verpflichtet, das langweilt total. Ich finde es erschreckend, mit wie wenig Risiko viele Mannschaften gespielt haben. Nehmen wir nur die Spanier: Die sind in ihren vier Spielen auf vier Gegner getroffen, die mit zehn Mann am eigenen Strafraum standen. Das ist doch beschämend.

In einem Bus voller Stuttgarter

Wie erleben Sie Land und Leute?

Die Gastfreundschaft hier ist phänomenal. Das Land bietet so viele unterschiedliche Facetten in Kultur, Sprache und im täglichen Miteinander, da gehe ich total drin auf.

Waren Sie auch mal in einem Township?

Ich war mit zwei Freunden in Soweto. Das war einerseits bedrückend, aber auch sehr interessant und sehr amüsant.

Erzählen Sie.

Als der Minibus kam, waren von zehn Plätzen gerade noch drei frei. Ich habe mich vorn neben den Fahrer gesetzt. Da fragt er: Kommt jemand aus Italien, aus Frankreich, aus England? Alle sagten Nein. Da fragt er: Woher kommt ihr dann? Und alle antworteten aus einem Mund: Aus Deutschland, aus Stuttgart.

Da haben Sie Ihre Mütze bestimmt ganz tief in die Stirn gezogen?

Ja, die hatten alle keine Ahnung, wer da mit im Bus saß. Erst beim ersten Stopp haben sie mich erkannt.

Und Sie haben den Trip bereut?

Keine Spur. Wir haben Fotos gemacht, und ich habe Ihnen Autogramme gegeben. Dann haben wir zusammen Soweto besichtigt. Ich habe da keine Berührungsängste, schon gar nicht in so kleinen Gruppen.