Jürgen Hering hat es vor 60 Jahren nach Riedenberg verschlagen. Foto: privat

Jürgen Hering, der einstige Leiter der Universitätsbibliothek Stuttgart, ist 80 Jahre alt geworden. Vor 60 Jahren hat er der DDR den Rücken gekehrt und kam nach Stuttgart-Riedenberg. Das hatte auch mit seinem Tagebuch zu tun...

Riedenberg - Jürgen Hering wohnt dort, wo vor knapp 60 Jahren alles begann. Wo er, damals knapp 20, mit kleinen Schritten in seine Zukunft startete. In Riedenberg an der Eichenparkstraße. Wenn der neuerdings 80-Jährige Erinnerungen an das Jahr 1956 aufleben lassen will, muss er von seinem Haus nur wenige hundert Meter in Richtung Schemppstraße laufen. Im „Parkheim zum Waldhorn“ – das inzwischen einem Neubau Platz machen musste – paukte er ein halbes Jahr fürs westdeutsche Abitur. Das ostdeutsche hatte er, doch es brauchte eine Ergänzungsprüfung, um im Westen zu studieren.

Die Mercedesfrau wurde seine Gattin

Das Parkheim an der Eichenparkstraße sollte nur eine Zwischenstation sein auf dem Weg ins westdeutsche Leben. Doch es kam anders. Jürgen Hering verguckte sich in eine Riedenbergerin. Sie sei immer mit dem Mercedes ihres Vaters die Eichenparkstraße entlanggefahren. „Da haben wir immer gesagt: ,Da kommt sie wieder, die Mercedesfrau‘.“ Die Mercedesfrau wurde seine Gattin. Und sein Zuhause wurde ein Haus an der Eichenparkstraße.

Dass es Hering nach Riedenberg verschlagen hat, hat auch mit seinem Tagebuch zu tun. Nach dem Abitur wollte er Theaterwissenschaften studieren, daraus wurde nichts. Also begann Hering mit seiner zweiten Wahl: Journalistik. Kein leichtes Fach Mitte der 50er in der damaligen DDR. Die Nachwuchsjournalisten mussten linientreu sein, und das war Jürgen Hering nicht, er tat nur so. „Wir waren Opposition“, sagt er. „Am 1. Mai liefen wir ein paar hundert Meter mit, und dann schlugen wir uns in die Büsche.“ In Chemnitz, seiner Geburtsstadt, sei das kein Problem gewesen. Aber an der Uni in Leipzig wehte ein anderer Wind. Nach außen hin lief Hering im Strom mit, doch in sein Tagebuch schrieb er, was er wirklich darüber dachte. Womit er nicht gerechnet hatte: Seine Zimmermitbewohner lasen heimlich in seinem Tagebuch. Bei einer extra einberufenen Versammlung wurde Jürgen Hering damals zur Rede gestellt, nachdem Passagen aus seinem Tagebuch wortwörtlich vorgelesen worden sind. „Als 18-Jährigem wird einem da schon mulmig“, sagt er. Die Konsequenz: Hering wurde relegiert, was bedeutete, dass er an keiner Hochschule der damaligen DDR mehr studieren durfte. Egal was.

Er durfte an keiner Uni im Osten mehr studieren

Deshalb hat er sich damals auf den Weg in den Westen gemacht, was zu der Zeit – noch vor dem Bau der Mauer – nicht sonderlich schwer gewesen sei. Nach dem Abi-Lehrgang an der Eichenparkstraße in Riedenberg studierte er in Stuttgart, München und Tübingen Geschichte, Deutsch und Russisch. Lehrer wollte er nicht werden, ihn zog es ins Bibliothekswesen. Er absolvierte eine Zusatzausbildung und wurde recht zügig – im Alter von 36 Jahren – Leiter der Universitätsbibliothek in Stuttgart. Das war er für 22 Jahre. Dann kam das Angebot aus der alten Heimat. Jürgen Hering wurde gefragt, ob er der erste Generaldirektor der Sächsischen Landesbibliothek und Staats- und Universitätsbibliothek Dresden werden wollte. Ein schwieriger Auftrag. Denn sein Job sollte es sein, die beiden Institutionen zusammenzuführen. Er sagte zu. „Ich kam in eine sehr aufgeheizte Stimmung“, erzählt er. Die sechs Jahre bis zum Ruhestand pendelte er zwischen Dresden und Riedenberg.

Jürgen Hering – seit 2009 Träger des Bundesverdienstkreuzes – war zwar oft weg, doch auf Riedenberg hatte er stets ein Augenmerk. Als Elternbeirat hat er sich ins Schulleben eingebracht. Zusammen mit anderen kämpfte er zum Beispiel für die Beschleunigung des Baus des Geschwister-Scholl-Gymnasiums und für einen Fußweg für die Schüler zwischen Riedenberg und Sillenbuch. Durch Posten in Berufsverbänden, Stiftungen, sein ehrenamtliches Engagement und seine Mitgliedschaft im Rotary Club hatte und hat er viele Kontakte. „Die habe ich für die gute Sache genutzt“, sagt er.