Unter Polizeischutz in Paris: Mit rund einer halben Million Menschen zählt Frankreich die größte jüdische Gemeinde in Europa Foto: imago stock&people

Die Anschläge von Paris haben auch bei der jüdischen Bevölkerung in ganz Europa zu Verunsicherung geführt. Vor Synagogen verstärken Sicherheitskräfte die Kontrollen. Einschüchtern lassen will sich aber niemand – weder in Frankreich noch in Deutschland.

Paris/Berlin - Die kleine, hagere Frau wirkt unscheinbar. Doch der zerbrechliche Anschein der Dame von fast 81 Jahren täuscht. „Ich habe gelernt zu kämpfen“, sagt Esther entschlossen. „Und wenn mir einer mit harten Worten kommt, dann gebe ich die zurück. Genauso hart.“ Die jungen Zuhörer hängen gebannt an ihren Lippen.

Seit 18 Jahren geht Esther in Schulklassen, um von ihrem schweren Schicksal zu erzählen: wie sie 1942 die Massen-Razzia auf Juden in der Radsporthalle „Vel’ d’Hiv“ in Paris überlebt hat, während ihre Eltern nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurden. „Mich wirft so leicht nichts mehr um“, versichert die resolute Frau, die sich in jüdischen Vereinigungen engagiert. Aber den Freitag vor eineinhalb Wochen erlebte sie als „sehr schweren Moment“.

Zwei Tage nach dem blutigen Anschlag islamistischer Terroristen auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ erschoss der mit den Tätern bekannte Amedy Coulibaly in einem koscheren Lebensmittelmarkt in Paris vier Männer. Die Polizei tötete ihn, doch im Internet erschien ein Video, das er noch aufgenommen hatte und in dem er seine Loyalität zur Terrormiliz Islamischer Staat ausdrückte. Die Leichen seiner Opfer wurden auf Wunsch ihrer Familien nach Jerusalem gebracht. Man beerdigte sie auf demselben Friedhof wie den Rabbiner und die drei Kinder, die der islamistische Terrorist Mohamed Merah 2012 vor einer jüdischen Schule in Toulouse erschossen hat. Auch diese Morde entsetzten die Juden in Frankreich zutiefst. „Ich habe nicht geglaubt, so etwas noch einmal erleben zu müssen“, sagt Esther. „Und ich fürchte, es ist noch nicht vorbei.“

In Frankreich lebt die größte jüdische Gemeinschaft Europas

Mit rund einer halben Million Menschen zählt Frankreich die größte jüdische Gemeinschaft in Europa – und sogar die drittgrößte in der Welt nach Israel und den USA. Viele fühlen sich hier nicht mehr sicher trotz der 4700 Einsatzkräfte, die künftig 717 jüdische Schulen und Glaubensstätten im ganzen Land schützen sollen. Schon im letzten Jahr wanderten fast 7000 von ihnen nach Israel aus , mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr. Und nun wird mit noch viel mehr gerechnet.

Denn die jüngsten Anschläge erscheinen wie ein grausamer Höhepunkt, nachdem der Antisemitismus seit Jahren zunimmt. Er zeigt sich nicht nur in Pöbeleien gegenüber Männern, die die Kippa tragen, oder im Fortbestehen ewiger Klischees, wie Studien bestätigen. Auch schlug der Streit um Auftrittsverbote für den Kabarettisten Dieudonné große Wellen, der sein Programm mit antisemitischen Provokationen bestreitet. Nach der Erklärung „Ich fühle mich wie Charlie Coulibaly“ in Anspielung auf den Attentäter wurde Dieudonné am Mittwoch festgenommen und ein Verfahren wegen Verherrlichung des Terrorismus gegen ihn eingeleitet. Zudem kam es in den vergangenen Jahren immer wieder zu brutalen Übergriffen.

Anfang 2006 entführte eine Gruppe junger Muslime, die sogenannte Bande der Barbaren, den 23-jährigen Juden Ilan Halimi und folterte ihn wochenlang zu Tode, während sie von seiner alleinerziehenden Mutter Lösegeld zu erpressen versuchte. 2012 entsetzten die Morde des radikalen Islamisten Merah in Toulouse. Im vergangenen Mai erschoss Mehdi Nemmouche, ein aus dem Syrienkrieg zurückgekehrter Franzose, im Jüdischen Museum von Brüssel vier Menschen. Vor ein paar Wochen überfielen junge Männer in einem Vorort von Paris ein jüdisches Pärchen in dessen Wohnung, vergewaltigten die Frau, schlugen den Mann und zwangen sie, Kreditkarten und die PIN-Codes herauszugeben. Die Zahl antisemitischer Gewaltakte hat sich allein 2014 fast verdoppelt.

Auswandern kommt für sie nicht infrage

Die Terror-Attentate haben zwar aufgeschreckt und eine starke Bewegung der Solidarität mit den Opfern ausgelöst. Premierminister Manuel Valls hat erklärt, wer die Juden angreife, vergehe sich am Fundament des Landes: „Frankreich ohne Juden wäre nicht mehr Frankreich.“ Dennoch befürchtet Esther keine schnelle Verbesserung. Auswandern kommt für sie aber nicht infrage. Sie sei Französin und wolle in ihrem Land für mehr Toleranz kämpfen, erklärt sie. „Nach allem, was ich erlebt habe, werde ich eines nie tun: den Kopf senken. “

Die in Deutschland lebenden Juden denken genauso. Nein, die Koffer sind nicht gepackt, sagt Sergey Lagodinsky. Und auch das „Katastrophendenken“ halte sich unter Deutschlands Juden in Grenzen. Doch eine gewisse Sorge bewegt den Berliner Rechtsanwalt dann doch. Für viele Juden sei der Sommer 2014 „ein Zeichen der Wende“ gewesen. Bei den Demonstrationen gegen den Gaza-Krieg seien Juden auf deutschen Straßen wieder massiv mit antisemitischen Parolen konfrontiert worden.

Um Leib und Leben sei ihm aber nicht bange, sagt Lagodinsky, der 1975 in Russland geboren wurde und 1993 mit seiner Familie in die Bundesrepublik übersiedelte. Zwei Wochen nach den Anschlägen auf das Satireblatt „Charlie Hebdo“, eine Polizistin und den koscheren Supermarkt in Paris mit 17 Todesopfern suchen Deutschlands Juden einen Weg zurück in die Normalität.

Beunruhigt, aber nicht tief verängstigt

Michael Lohse schätzt die Gefahr für sich eher abstrakt ein. „Von einer tiefsitzenden Angst kann aber keine Rede sein – manche sind beunruhigt“, beschreibt der 68-Jährige, einer der Geschäftsführer des koscheren Deli King in Hamburg, die Stimmung in der jüdischen Gemeinde und seinem Bekanntenkreis.

Das Deli King ist ein kleines, helles Geschäft im Grindelviertel. Nebenan gibt es ein türkisches Café, ein indisch-vegetarisches und ein chinesisches Restaurant. Sie seien hier sehr gut aufgenommen worden.

Lohse lebt seinen jüdischen Glauben offen aus, geht mit Kippa vor die Tür. Die Synagoge ist ein paar Hundert Meter entfernt, in der ehemaligen Talmud-Tora-Schule wird wieder unterrichtet. 145 Schüler gehen in die Joseph-Carlebach-Schule, eine Ausreise nach Israel ist nach Lohses Einschätzung hier kein Thema.

Lagodinsky sieht das ähnlich. Anders als in Frankreich seien die meisten Juden in Deutschland aus der ehemaligen Sowjetunion gekommen. „Sie trafen die Entscheidung auszuwandern, um hier zu bleiben.“ Doch etwas habe sich geändert. „Unter den Migranten gibt es einen Generationswechsel. Viele Regeln, die wir aus der deutschen Geschichte im Umgang mit der jüdischen Minderheit erlernt haben, werden hinterfragt. Wenn das die Folge von Multikulti ist, müssen wir uns fragen, ob wir den Multikulturalismus richtig verstehen.“

So kann von unbeschwertem Leben wohl keine Rede sein, etwa für die Frau eines Rabbiners in Bayern. Sie hat Angst, ihren Namen in der Zeitung zu lesen. „Ich bin vorsichtiger geworden, schaue mich um, wenn ich aus der Synagoge komme, vergewissere mich zweimal, ob die Tür geschlossen ist.“ Die Frau ist sich sicher: „Was da in Paris passiert ist, kann morgen auch in Deutschland geschehen.“

Koschere Restaurants, Klezmer, Kulturtage – seit Jahren ist vor allem in Deutschlands Großstädten jüdisches Leben wieder öffentlich sichtbar. Doch die fragile Normalität ist unter den mehr als 100 000 Gemeindemitgliedern nicht erst seit den Morden von Paris bedroht.

Vor Synagogen und Gemeindezentren wird dieser Tage die Präsenz von Sicherheitskräften erhöht, berichtet Josef Schuster, der frisch gewählte Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. „Es gibt mehr Wachsamkeit, aber Angst oder Panik gibt es nicht.“ Für Schuster ist klar: Der Terror ist mitten in Europa angekommen. Einschüchtern lassen wollen sich die jüdischen Gemeinden aber auf keinen Fall. „Das wäre genau die falsche Reaktion.“

Wissen, was wichtig ist – abonnieren Sie hier den StN-Newsletter