In London gehen viele Briten zur deutschen Botschaft, um einen Pass zu beantragen. Foto: AFP

Tausende britische Juden beantragen derzeit deutsche Pässe. Angesichts der Gräuel des von den Deutschen begangenen Holocausts für sie kein leichter Schritt. Doch für manche ist es ein Weg zurück zu ihrem Ursprung.

London - Robin Francis Lustig staunte über sich selbst, als er kürzlich zur deutschen Botschaft in London spazierte. Noch vor 80 Jahren, nach der Kristallnacht, hatte sein Vater sich in Berlin in Panik versteckt, um dann aus Deutschland zu fliehen.   Viele Angehörige waren dem Nazi-Horror in der Folge zum Opfer gefallen. Lustig selbst, 1948 in London geboren, wuchs auf mit der Familienerinnerung an die Schrecken jener Jahre. Er sei Großbritannien immer „zutiefst dankbar“ gewesen für die Aufnahme seiner Familie.

Und er habe die Britischen Inseln stets als seine Heimat betrachtet, beteuert Lustig, seinen Landsleuten als langjähriger BBC-Journalist bekannt.   Aber er sei eben nicht nur Brite, fügt Robin Lustig an. Er sei auch Europäer. Und das hat ihn, seinen Sohn, seine Tochter und seinen Bruder diesen November in die deutsche Botschaft am Belgrave Square geführt.

Die Zahl der Anträge steigt

Alle vier beantragten dort die deutsche Staatsbürgerschaft. Damit, erklärte Lustig dem Londoner „Observer“, wolle er seine britische Identität ergänzen. Denn er lehne „kategorisch die Idee ab, dass jemandes Identität von nationalen Grenzen starr eingeengt sein muss“.   Grund für Lustigs Schritt war der Brexit.

Immer mehr Nachfahren deutsch-jüdischer Flüchtlinge auf der Insel haben sich, wie die Lustigs, darauf besonnen, dass sie nach deutschem Recht die ihren Vorfahren von den Nazis aberkannte Staatsangehörigkeit wieder in Anspruch nehmen können.  

Seit dem Brexit-Beschluss 2016 hat sich die Zahl dieser Anträge dramatisch erhöht. 2015, im Jahr vor dem Referendum, wurden in Großbritannien nur 43 Anträge zur Wiederanerkennung verlorener deutscher Staatsbürgerschaft gestellt. 2017 waren es 1667. Und auch dieses Jahr dürften es wieder weit über tausend sein.   Viele Antragsteller erklären, sie wollten sich vom Brexit ihre „europäische Identität“ nicht rauben lassen.

Auch irische Pässe sind gefragt

Jüngeren Briten jüdischer Herkunft ist wichtig, dass sie auch künftig weiter in Europa reisen, wohnen und arbeiten können. Anderen britischen Proeuropäern geht es genauso. Die Suche nach irischen Vorfahren etwa hat in den letzten zwei Jahren sprunghaft zugenommen. Seit dem Referendum haben mehr als 176 000 Briten irische Pässe beantragt.

Den vielen jüdischen Antragstellern fällt der Schritt nicht leicht. Viele fragen sich, was wohl die geflüchteten Eltern oder Großeltern davon gehalten hätten. Andererseits würde Robin Lustig es für „kleinlich“ halten, „das Angebot einer ausgestreckten Hand nicht anzunehmen“. Ebenso sah es die Londoner Rabbinerin Julia Neuberger, die sich fünf Monate nach dem Referendum dafür entschied, „mir einen Teil meiner Geschichte, meine deutschen Ursprünge, wieder anzueignen“, und damit die Antragswelle in der Botschaft lostrat.

„Negative Gefühle“

 Neuberger hatte die 50 Jahre ihres Lebens „ziemlich negative Gefühle im Blick auf Deutschland“. Doch wie Robin Lustig half ihr der Ernst, mit dem Deutsche, die sie kennenlernte, ihre Vergangenheit aufarbeiteten.

Außerdem empfand die Rabbinerin „enorme Bewunderung“ für Angela Merkel: „für die offenen Arme, mit der sie syrische und andere Flüchtlinge aufnahm, wohingegen unsere eigene Regierung sich schäbig verhielt“. Natürlich liebe sie Großbritannien, das ihr zur Heimat geworden sei, auch wenn sie es kritisiere: „Aber ich bin ebenso Europäerin wie stolze Britin. Es gibt viele Identitäten, die sich überschneiden bei mir.“