Judith Holofernes, 40: „Wer Kunst machen will, muss Chaos in sich haben.“ Foto: Marco Sensche

Judith Holofernes hatte schon mal eine Karriere als Frontfrau von Wir sind Helden. Jetzt hat sie nicht nur eine zweite Soloplatte, sondern auch ein eigenes Label. Ein Gespräch über das innere und äußere Chaos und ob es jemals wieder „Wir sind Helden“ geben wird.

Berlin - Kreuzberg, verregneter Donnerstagnachmittag. Judith Holofernes sitzt eingemümmelt auf dem Sofa, trinkt Tee und lächelt, wie sie es häufig macht. Die Frau, die gerne mal „Stimme einer Generation“ genannt wurde, als Sängerin von Wir sind Helden berühmt wurde, empfängt Journalisten in ihrer Arbeitswohnung. Sie ist ungeschminkt, wie immer fröhlich und etwas aufgeregt vor der neuen Freiheit, die da vor ihr liegt.

Frau Holofernes, wir treffen uns hier in Ihrer Arbeitswohnung in Kreuzberg. Sind Sie sehr verwurzelt in dem Stadtteil?
Ich bin in Kreuzberg geboren, in den Kinderladen um die Ecke gegangen und seit 1998 wieder da. Inzwischen bin ich wieder länger in Berlin als ich zwischendurch in Freiburg war.
Was mögen Sie an Kreuzberg?
Es verändert sich sehr, weil es sehr viel teurer wird. Das passiert zwar sehr langsam, aber es geht durchaus etwas verloren. Es war immer ein Teil des Charmes von Berlin, dass es im Vergleich zu anderen Weltstädten sehr billig ist und man merkt, dass es Leute gibt, die nicht die ganze Zeit arbeiten müssen. Egal zu welcher Tages- und Nachtzeit sitzen Leute im Café und genießen ihre Freizeit. Ich habe auch kein Problem mit den vielen Touristen. Ich schaue denen gerne dabei zu, wie sie Spaß an meinem Stadtteil haben. Es ist natürlich schade, dass viel von Großinvestoren aufgekauft wird. Vor acht Jahren habe ich immer behauptet, dass Kreuzberg nicht kaputt zu kriegen ist. Inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher, wenn da nicht irgendwelche Riegel vorgeschoben werden. Teilweise ist es natürlich auch schön, wenn schöne Läden mit schönen Sachen aufmachen. Aber die Leute, die eigentlich da gewohnt haben, müssen dann nach Wedding.
Sind Sie dennoch eine Optimistin?
Eigentlich schon, und ziemlich unerschütterlich. Ich bin wohl die letzte Optimistin – wie jene aus dem Lied.
Was bringt eine Optimistin dazu, am Boden zerstört zu sein?
Ich kann mich noch erinnern, wie sich richtiger, elender Liebeskummer körperlich anfühlt. Also so Liebeskummer, bei dem man drauf gehen könnte. Aus diesem Elendsgefühl ist der Song entstanden.
„Ich bin das Chaos“ klingt irgendwie auch altmodisch. Wo wollten Sie bei Ihrem zweiten Soloalbum musikalisch hin?
Ich habe immer viele musikalische Lieben, die ich auch nicht ausschließen kann. Ich weiß immer von Anfang an, dass meine Musik stets sehr zitatreich sein wird. Ich wollte einen Gesamtalbumsound herstellen. Für die Songs brauche ich eine gewisse Größe, Tiefe und einen gewissen Wumms. Am Ende ist wieder alles Mögliche eingeflossen. Zum Beispiel 80er-Jahre-Anleihen, mir sind da obskure Songs im Kopf herumgeschwirrt, wie etwa „Shadows of the Night“ von Helen Schneider und Lieder von Pat Benatar oder Cyndi Lauper.

„In meinem Leben ist das Chaos schon immer ein Thema. Im negativen wie im positiven.“

„Ich bin das Chaos“ heißt das Album. Wie viel Chaos steckt in Ihrem Leben?
In den vergangenen vier Jahren, als dieses Album entstanden ist, war äußeres Chaos doch sehr präsent. Da gab es viel Weltuntergang am Zeitungskiosk. Damit habe ich mich natürlich beschäftigt, warum man sich nach dem Weltuntergang sehnt und ihn gleichzeitig fürchtet. In meinem Leben ist das Chaos schon immer ein Thema. Im negativen wie im positiven. Natürlich hat Nietzsche Recht, wenn er schreibt, dass man Chaos in sich haben muss, um einen tanzenden Stern zu gebären. Das stimmt. Wer Kunst machen will, muss Chaos in sich haben. Auf der anderen Seite kämpfe ich mein Leben lang gegen das Chaos in mir. Wenn ich nicht richtig ausgeglichen bin, kann man mich an der Spur zurückgelassener Joghurtbecher und Kleidungsstücke verfolgen. Das ist alles mühsam zusammengehalten. Aber ich bekomme es immer besser hin, weil ich schon ein paar Jahre zum Üben hatte. Ich habe gelernt, nicht in jedem Hotelzimmer die Hälfte von meinem Zeug zu vergessen.