Jossi Wieler blickt zurück und nach vorne. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Oper sei die kollektivste Kunstform, die es gibt, findet der scheidende Intendant Jossi Wieler – Im Interview zieht er Bilanz seiner sieben Jahre auf dem Chefsessel in Stuttgart

Stuttgart - Er ist 2011 angetreten, um selbst Regie und außerdem ein Haus zu führen. Und er hatte sich vorgenommen, von Stuttgart aus das Musiktheater zu entschleunigen. Beides, findet Jossi Wieler, ist ihm in Stuttgart gelungen. Warum er jetzt dennoch geht und was er für die Zukunft plant, verrät er im Gespräch.

Herr Wieler, welche Ihrer Erwartungen und Vorsätze haben sich eingelöst?
Ganz viele! Die Art und Weise, wie hier in Stuttgart Musiktheater immer schon gedacht und gemacht wurde, haben wir in den vergangenen sieben Jahren weitergeführt. Die Arbeit mit dem Ensemble wurde mit der Zeit immer intensiver. Außerdem haben wir mutige Projekte gewagt: Wiederentdeckungen von Werken, die vergessen oder kaum bekannt waren wie Jommellis „Berenike“, Denissows „Schaum der Tage“ oder Boesmans‘ „Reigen“, dazu gleich in der ersten Spielzeit Schönbergs „Glückliche Hand“ in der Kombination mit Janáceks „Schicksal“ – all diese Stücke haben wir in relevanten szenischen Umsetzungen versinnlicht. Hinzu kommen zwei große Uraufführungen, die beide auf ganz besondere Weise gelungen sind, gerade indem und wie sie unsere Gegenwart reflektieren. Für die Realisierung dieser wichtigen Uraufführungen haben wir zeitlich, inhaltlich und finanziell viel investiert.
Der Opernbetrieb, haben Sie vor Ihrem Amtsantritt gesagt, bedürfe dringend einer Entschleunigung. Gehört dieser lange, sorgfältige Planungsvorlauf dazu?
Ja, unbedingt. Und im Rückblick sehe ich, dass sich auch diese Entschleunigung hier in Stuttgart eingelöst hat. Ich hatte das Amt eines Intendanten nie gesucht, aber weil ich den besonderen Geist des Hauses kannte habe ich die Herausforderung gerne angenommen, um diesen Geist zu pflegen und weiter zu entwickeln. Das ist gelungen – bis hin zur jüngsten Uraufführung von „Erdbeben.Träume“. Am Anfang stand die Idee, dass Toshio Hosokawa, der bedeutendste japanische Komponist der Gegenwart, einen Kompositionsauftrag erhalten sollte. Mit ihm haben wir uns über den Stoff der Kleist-Novelle „Das Erdbeben in Chili“ verständigt. Der Schriftsteller Marcel Beyer sollte hierzu als Librettist eine eigene Sprache schaffen. Das bedeutete auch, dass Anna Viebrock ein Bühnenbild entwerfen musste, bevor die Musik überhaupt komponiert war. Das alles hat natürlich viel Vorbereitungszeit gekostet, insgesamt mehr als vier Jahre, aber diese Verausgabung hat sich gelohnt. Diese Stuttgarter Entschleunigung würde ich mir insgesamt für das Musiktheater wünschen. Nehmen wir als Beispiel die Konzeptionsgespräche speziell für das Orchester. Die gibt es, meines Wissens, nur bei uns in Stuttgart. Ein Dirigent muss dafür fast eine halbe Stunde seiner Probenzeit abgeben. Das hat uns zunächst viel Überzeugungsarbeit gekostet. Aber ich bin der festen Meinung, dass das Wissen der Orchestermusiker um die eine szenische Konzeption im Klangergebnis letztlich hörbar wird. Außerdem haben wir ausgedehnte „Nach(t)gespräche“ mit unserem Publikum geführt, Öffentliche Proben angeboten und jede Wiederaufnahme und Dernière wurde gebührend gefeiert. Oper ist die kollektivste Kunstform, die es gibt. Dafür muss man die entsprechenden Bedingungen, den Humus schaffen.
Zu Beginn Ihrer Amtszeit wollten Sie pro Spielzeit von den fünf Premieren nur eine einzige nach außen vergeben. Die restlichen Produktionen sollten im Haus entstehen – unter der Regie von Ihnen mit Sergio Morabito und von Andrea Moses als Hausregisseurin. Das haben Sie aufgegeben . . .
Ich finde die Idee nach wie vor sehr spannend, aber wir haben relativ bald gemerkt, dass ein Repertoirebetrieb mit nur fünf Neuproduktionen und weiteren 17 oder 18 anderen Stücken auf dem Spielplan auf diese Weise mit der Zeit doch an Vielfalt einbüßt.
Dann hätten doch auch Sie selbst sich auf eine Regie pro Saison beschränken können.
Ich habe mein Intendantenamt mit der Haltung angetreten, als Regisseur, zusammen mit Sergio Moabito, ausschließlich in Stuttgart zu inszenieren und alle anderen Angebote nicht mehr anzunehmen. Ich wollte das Haus auch mit unserer eigenen künstlerischen Handschrift noch intensiver prägen als in den vielen Jahren zuvor – was ich auch deshalb mit gutem Gewissen tun konnte, weil diese Handschrift ja von Produktion zu Produktion sehr unterschiedlich ist. Sie wird aus dem Werk heraus entwickelt, deshalb begegnen Sie in jeder Produktion von Sergio und mir ganz unterschiedlichen ästhetischen Welten. Gleiches gilt auch für die Bühnen- und Kostümbildner, mit denen wir zusammengearbeitet haben, also Anna Viebrock, Bert Neumann, Jens Kilian und Nina von Mechow. Vor „Pique Dame“ war zum Beispiel eine Drehbühne für Anna Viebrock kaum vorstellbar. Dann aber ist sie doch entstanden – als Ergebnis langer inhaltlicher Dialoge.
Kommen wir noch einmal zurück auf die Gefahr der mangelnden Vielfalt. Andrea Moses hat ganz andere Bildwelten gefunden als Sie. Dennoch ist sie gegangen. War Ihre Öffnung auch ein Kompromiss an die Erwartungshaltung des Publikums? Oder haben Sie sich schlicht ein breiteres Regiespektrum in Stuttgart gewünscht?
Die Arbeiten von Andrea Moses waren von ihrer ersten Arbeit, „Fausts Verdammnis“, an großartig. Ihr „Faust“ war ein Wurf, ein starkes, persönliches Statement, das gilt auch für viele ihrer anderen Inszenierungen, wie etwa „La Cenerentola“ oder „Falstaff“. Ihr „Don Giovanni“ wurde am Ende der ersten Saison live auf die Großleinwand am Eckensee übertragen und während allen sieben Spielzeiten weitergespielt. Andrea Moses‘ Arbeit mit dem Chor und mit den Solisten hat das Haus extrem geprägt. So sind auch viele ihrer Inszenierungen nach wie vor im Repertoire.
Warum haben Sie dann Ihr Konzept verändert?
Der Grund ist der gleiche, warum auch ich nach sieben Jahren als Intendant aufhöre: Es ist meine feste Überzeugung, dass ein Theater die Veränderung von innen heraus braucht, immer wieder. Diese Überzeugung war der Grund dafür, dass wir nach drei Jahren die Idee des Hausregisseurs oder der Hausregisseurin aufgegeben und mehr Gäste verpflichtet haben. Veränderung braucht es auch auf Intendantensesseln, wenn Menschen zu lange darauf sitzen, dann tut das dem Theaterbetrieb selten gut, genauso wenig wie den Amtsträgern selbst. Ich bin zuallererst Künstler, Regisseur, und hatte jetzt als Intendant in gewisser Weise ja zwei Berufe gleichzeitig. Je länger man als Theaterleiter Macht hat, desto mehr spürt man, dass diese etwas mit einem macht und dass sie unmerklich etwas verändert in der künstlerischen Unabhängigkeit. Weil ich das weiß, habe ich vor drei Jahren schon gesagt, dass ich 2018 aufhöre. Ich war als Schauspielregisseur mit Frank Baumbauer sehr verbunden: fünf Jahre lang in Basel, sieben am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, acht an den Münchner Kammerspielen, und das war prägend für mein Denken darüber, wie lebendig Theater bleiben sollte. Irgendwann kennen alle im Haus die Koordinaten, in denen man denkt und handelt, das eigene Verhalten wird für die anderen antizipierbar. Und das bremst nach einer gewissen Zeit die notwendige Beweglichkeit eines Theaterbetriebes. Außerdem ist der Beruf des Intendanten und des Regisseurs auch ein bisschen wie eine Droge, ein Rausch: Gerade wenn es gut läuft, dann will man immer mehr davon. Das Einfachste wäre, einfach immer so weiter zu machen, und das ist gefährlich.
Gab es Enttäuschungen?
Richtig enttäuscht worden bin ich nicht. Ich finde, all unsere Produktionen haben ein bestimmtes Niveau, die meisten sogar ein sehr hohes. Manchmal mag das eine oder andere vielleicht weniger gelungen sein, aber das gehört zum Theater. Ich selbst habe im Schauspiel auch etliches gemacht, was ich im Nachhinein weniger gelungen fand. Eine Produktion wurde sogar einmal noch vor der Premiere abgesagt. Das kann passieren, wenn die „Zutaten“ nicht stimmen. Scheitern gehört zur Theaterarbeit. Man lernt daraus.
Welche Produktion hat Sie besonders beglückt?
Oh, jetzt wird’s schwer. Das ist ein bisschen wie bei Nathan dem Weisen und seinen drei Söhnen. Man hat alle seine Kinder gleich lieb. In meinem Fall gilt das für die 14 eigenen Produktionen, die Sergio Morabito und ich hier in den vergangenen sieben Jahren erarbeitet haben, ebenso wie für die Inszenierungen anderer Regisseure. Alles ist auf hohem Niveau geglückt, darüber freue ich mich sehr, auch wenn manche Produktionen vom Publikum oder von der Kritik weniger emphatisch aufgenommen worden sind als andere. Was hatten und haben wir für wundervolle Abende mit Inszenierungen von Calixto Bieito: mit den neuen, also „Platée“ und „Fairy Queen“, aber auch mit den Wiederaufnahmen von „Parsifal“, dem „Fliegenden Holländer“ und der grandiosen „Jenufa“. Wie schon erwähnt auch „Fausts Verdammnis“ von Andrea Moses, auch „Jakob Lenz“ von Andrea Breth und Kirill Serebrennikows „Salome“. Und bei den eigenen Inszenierungen „Die Nachtwandlerin“, „Glückliche Hand / Schicksal“. Und dann die Neuinszenierung von Strauss‘ „Ariadne auf Naxos“, die wir ja bereits 2001 bei den Salzburger Festspielen inszeniert hatten, wo wir aus unserer Erfahrung mit dem Werk heraus das Vorspiel zum Nachspiel erklärt haben. Das war eine starke Setzung, und wenn ich daran denke, bin ich immer noch berührt: von diesem becketthaften Verlorensein, dem Warten all der Künstlerfiguren des „Vorspiels“ und der konkreten Verbindung zum Littmannbau, wo das Werk 1912 uraufgeführt wurde. Oder die religiös eifernden „Puritaner“ mit ihrer hohen gesellschaftspolitischen Relevanz: Es beglückt mich immer wieder, dass mit Mitteln der Kunst durch die alten Werke so viel Relevantes über unsere Gegenwart erzählt werden kann. Mark Andres „wunderzaichen“ ist ein Werk, das die Zeit anhält, es entsteht eine geradezu magische, metaphysische Zeit – und das, obwohl sich die Musik zunächst so sehr gegen eine theatrale Versinnlichung zu wehren schien. Aus fast nicht mehr Hörbarem Theater zu machen, war eine inspirierende Herausforderung und beglückende Erfahrung.
Sie werden Stuttgart verlassen, nach Berlin ziehen. Was werden Sie dort tun?
Meine Pläne sind noch relativ offen. Ich mache jetzt erst einmal ein paar Monate Pause, ich werde wieder mehr lesen und vermehrt zu Zeiten reisen, in denen ich das zuletzt nicht konnte. Einfach unabhängiger sein. Im Dezember studieren wir unsere „Nachtwandlerin“ an der Deutschen Oper in Berlin ein. Ansonsten habe ich für die nächste Saison nur eine einzige Neuproduktion, den „Freischütz“ bei Eva Kleinitz in Straßburg, zugesagt. Beim Schauspiel, das sich in den letzten Jahren stark verändert hat, muss ich erst einmal wieder herausfinden, wo da für mich eine Heimat sein kann.
Was werden Sie vermissen?
Sehr Vieles. Ich bin hier glücklich. Ich werde die tägliche Nähe zu den Mitarbeitern, die Nähe zur Bühne vermissen – ich war ja, wenn irgend möglich, immer in den Vorstellungen. Ich liebe diese Atmosphäre, stehe oft auch einfach hinter der Bühne, beim Inspizienten. Wobei ich Backstage zwei Lieblingsmomente habe, und die finden beide in Konwitschny-Inszenierungen statt. Bei „Elektra“ ist es der Moment, in dem der Chor kurz vor Ende des Stücks auf die Bühne läuft, nur, um dort abgeknallt zu werden – aber mit welcher Intensität er das tut! Und dann gibt es diesen Beginn der „Zauberflöte“: zu den Klängen der Ouvertüre formiert sich für die Zuschauer unsichtbar hinter dem Vorhang die „Schlange“, die Tamino bedrohen wird, diese Schlange besteht aus dem ganzen Chor und sämtlichen Solisten. Wie alle lautlos hinter dem Vorhang zusammenkommen, sich begrüßen und sich dann gemeinsam auf den Beginn konzentrieren: Das hat Zauber, dem wohnt eine besondere Theater-Magie inne. Das spürt man jedes Mal von Neuem während der gesamten Aufführung.
Und was werden Sie nicht vermissen?
Das Budget. Und juristische Entscheidungen. Wobei mir beides zum Glück meist von anderen vertrauensvoll abgenommen wurde.
Wen würden Sie gerne zum Abschied besonders fest umarmen?
Das ganze Haus. Es sind so viele intensive Beziehungen gewachsen. Viele kenne ich schon so lange: Helene Schneiderman habe ich schon vor ihrer Stuttgarter Zeit in Heidelberg getroffen, Roland Bracht, der schon bei „Titus“ dabei war, Catriona Smith, aber auch Jüngere wie Ana Durlovski – wir haben so viele Arbeiten zusammen gemacht, jede war immer wieder neu und lebte auch von ihrer Offenheit und ihrer Lust am Spiel.
Haben Sie sich von der Politik, der Presse und dem Publikum adäquat wahrgenommen gefühlt?
Vom Publikum extrem – die Zuschauer hier sind unglaublich offen und interessiert, wertschätzend, neugierig. Wenn etwa bei „wunderzaichen“ jemand nichts mit der Musik anfangen kann oder vielleicht auch mal nicht versteht, was gerade szenisch erzählt wird, dann steht er vielleicht auf und geht leise raus. Ich habe es in den sieben Jahren meiner Intendanz nie erlebt, dass Türen zugeschlagen wurden wie in München oder Berlin. Diese Mentalität werde ich auch vermissen. Seitens der Politik gab es eine extrem wertschätzende Haltung sowohl vom Land als auch von der Stadt. Letzte Saison war der Ministerpräsident acht oder neun Mal in der Oper. Er kommt sozusagen incognito. Er liebt die Oper und betont immer wieder, wieviel die Politik vom Musiktheater lernen kann. Bei der Presse hätte ich mir manchmal gewünscht, es gäbe ein bisschen mehr Empathie für das, was wir hier tun. Unserer ernsthaften, leidenschaftlichen Arbeit an den Werken, mit den Künstlern – dieser Arbeit muss man mit einer gewissen Empathie begegnen. Sonst wird man ihr nicht gerecht.
Was wünschen Sie Ihrem Nachfolger Viktor Schoner?
Ich wünsche ihm von Herzen viel Erfolg, in allem, was er tut, und dass ihn der Geist des Hauses ebenso beflügeln möge wie viele seiner Vorgänger.