Joshua Kimmich startet bei der EM durch. Foto: dpa

Joshua Kimmich beeindruckt als rechter Verteidiger – vor allem auch im Spiel nach vorn. Er wird als die Entdeckung der EM gefeiert und gilt schon als neues Wunderkind oder Nachfolger von Philipp Lahm.

Paris - Joshua“, rufen die Leute, „Joshua“, doch Joshua Kimmich bleibt nicht stehen. Vorhin, gleich nach dem Schlusspfiff, hat er ein, zwei kurze unverbindliche Sätze in eine Kamera gesprochen, hat gesagt, dass der Sieg gegen Nordirland höher hätte ausfallen müssen als nur mit 1:0. Jetzt aber, nach dem Duschen, steht ihm der Sinn nicht mehr nach Reden, obwohl es viele Fragen gibt. Schweigend legt er den langen Weg zurück, der durch die Katakomben des Pariser Prinzenparkstadions führt und an dem die Reporter warten. Kimmich schüttelt den Kopf, er will alleine sein mit sich und seinen Gedanken.

Man kann das gut verstehen, so schnell wie das alles gegangen ist bis zu diesem Dienstagabend in Paris.

Zweitligaspieler in Leipzig war Joshua Kimmichnoch vor 13 Monaten, dann folgte der Wechsel zu den Bayern. Mal spielte er im Mittelfeld, mal in der Innenverteidigung, einmal auch hinten rechts, hoch gelobt von Pep Guardiola, egal auf welcher Position. Deutsche Meisterschaft, DFB-Pokalsieg, Champions-League-Halbfinale, es folgte die Berufung in den erweiterten deutschen Kader, ohne davor je dabei gewesen zu sein, und schließlich das Ticket nach Frankreich, die vorläufige Krönung dieses atemberaubenden Aufstiegs.

Der Nachfolger von Philipp Lahm?

Und jetzt auch noch das: der erste Einsatz auf der großen EM-Bühne, eine vorzügliche Leistung im letzten Gruppenspiel, nach dem er als die Entdeckung des Turniers gefeiert wird, als neues Wunderkind oder gleich als Nachfolger von Philipp Lahm. Da kann man als 21-Jähriger schon mal den Überblick verlieren – zumindest wenn man nicht Joshua Kimmich heißt.

Es gehört zu den wesentlichen Charaktereigenschaften dieses jungen Fußballprofis aus Rottweil, dass er in jeder Lebenslage die Ruhe und die Bodenhaftung behält, auf dem Platz und auch daneben. Mögen die Leute um ihn herum noch so aufgeregt sein – Kimmichs Puls bleibt auch in größten Drucksituationen verlässlich im grünen Bereich, sogar vor dem EM-Debüt. Er habe, berichtet Bundestrainer Joachim Löw, im Vorfeld „keinerlei Nervosität“ feststellen können.

Hier geht es zu Daten, Fakten und News rund um die EM

Weil sich Kimmich mit bemerkenswerter Selbstverständlichkeit auch bei den Bayern durchgesetzt hat, hält sich bei den Münchner Nationalspielern die Überraschung über die famose Premiere in Grenzen. Aus Erfahrung weiß Mario Götze, dass der Kollege „ein Superkerl mit enormen Qualitäten“ ist, einer der „immer da ist, wenn man ihn braucht.“ Und bestätigt sieht sich Thomas Müller in seiner Meinung, dass die große Zeit von Kimmich erst begonnen hat; „Jo hat das gespielt, was ich erwartet hatte – und ich hatte viel erwartet.“

Tatsächlich zeigte Kimmich gegen die Nordiren im Spiel nach vorne ein breites Spektrum an Fähigkeiten: Spielintelligenz und Passsicherheit, präzise Flanken und ein ausgespürtes Gespür für freie Räume. Ausgerechnet Benedikt Höwedes, vom Neuling aus der Startelf verdrängt, ist es, der das Loblied auf Kimmich hinterher am lautesten singt: „Er hat das Spiel durch seine Flankenläufe und Eins-gegen-eins-Duelle unheimlich belebt. Er hat ein Klassespiel gemacht.“ Kurz: „Es war die richtige Entscheidung, ihn für dieses Spiel in die Mannschaft zu nehmen.“

Benedikt Höwedes hat Schwächen im Spiel nach vorn

Der Schalker hat in den ersten beiden EM-Spielen hinten rechts verteidigt, gewohnt solide und zweikampfstark in der Defensive, mit begrenzten Möglichkeiten aber im Spiel nach vorn. Je nach Gegner, sagt Höwedes, gelte es, vor den nächsten Spielen abzuwägen, ob die offensivere Variante mit Kimmich oder die defensivere mit ihm geeigneter ist: „Da hat jeder sein Ego hinten anzustellen.“

Ungewiss ist vorerst in der Tat, wie sich Kimmich anstellen wird, wenn ihm bessere Spieler gegenüberstehen und es nicht mehr reicht, nur munter nach vorne zu stürmen. Fürs Erste aber hat er die Hoffnung geweckt, dass nun endlich ein Vakuum gefüllt werden könnte, das es in der DFB-Auswahl nicht erst seit dem Rücktritt von Philipp Lahm gibt.

Schon seit Jahren gelten die beiden Außenverteidigerpositionen als Problemzonen im deutschen Fußball. Höwedes, eigentlich ein Innenverteidiger, wurde in 2014 Brasilien unverhofft zum Stammspieler hinten links, wo in Frankreich der Kölner Jonas Hector keine Konkurrenz zu fürchten braucht. Angesichts der fehlenden Auswahl regte Joachim Löw erst dieser Tage wieder einmal an, die Ausbildung zu überdenken. Die besten Nachwuchsspieler dürften nicht immer nur im Zentrum agieren –„wir sollten sie im U-Bereich überzeugen, dass sie Außenverteidiger spielen“.

Auch Joshua Kimmich ist kein gelernter Außenverteidiger, auch er ist beim VfB Stuttgart zum zentralen Mittelfeldspieler ausgebildet worden – als vermeintliche Notlösung kam auch er in die Mannschaft. Nun dürfte der Umschüler nichts dagegen haben, den Crashkurs fortzusetzen. Denn die Chance, hinten rechts zur Dauerlösung zu werden, könnten besser kaum sein.