Die Hippies sind auch keine Lösung: Der Skull Rock im Joshua Tree Nationalpark in der Mojave-Wüste Foto: Tono Balaguer/Adobe Stock

In Jonathan Lethems Roman „Der wilde Detektiv“ geht es um ein verschwundenes Mädchen, Hippies in der Wüste, vor allem aber um die Fassunglosigkeit nach der US-Wahl.

Stuttgart - November ist der grausamste Monat. Der des Jahres 2016 zum Beispiel. Kaum ist in Los Angeles eine der großen Stimmen der Bedächtigkeit verstummt, feiert in Washington die Politik der Schreihälse ein rauschendes Fest: Am 7. November 2016 stirbt Leonard Cohen, am 8. November 2016 wird Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. Natürlich hängen diese Ereignisse nicht wirklich zusammen. Eine Geschichte zu erzählen, die den Tod des stillen Songpoeten und einfühlsam-sanften Geschichtenerzählers mit der Wahl des Politberserkers und Twitter-Rabauken verknüpft, ist trotzdem eine großartige Idee. Eine Idee, die den heimlichen Kern von Jonathan Lethems Roman „Der wilde Detektiv“ darstellt.

Auf den Spuren von Leonard Cohen

Irgendwie scheint hier jeder vor etwas wegzurennen oder nach etwas zu suchen, das es nicht gibt. Die 18-jährige Arabella Swados zum Beispiel, die ihr Studium abgebrochen hat und seit drei Monaten vermisst wird. Möglicherweise um sich auf die Spuren von Leonard Cohen zu begeben, der einige Zeit auf dem Mount Baldy östlich von Los Angeles als buddhistischer Mönch gelebt, sich mit Zen-Meditation beschäftigt und den Namen Jihan – der Stille – angenommen hat.

Oder die 33-jährige Phoebe Siegler, die jetzt hier im schäbigen Detektivbüro von Charles Heist steht, um nach Arabella zu suchen. Sie ist eine Journalistin, die sich langsam auf der Karriereleiter nach oben gearbeitet hat, dann aber beschließt sie zu kündigen und zwar „an dem berüchtigten Tag im November, an dem sich mein Boss und seines gleichen mit dem designierten Trumpeltier hinter geschlossenen Türen an einem langen Tisch zusammensetzten, um seine Geißelungen und Schmeicheleien entgegenzunehmen“. Sie schmeißt bei einem Tobsuchtsanfall alles hin und als New Yorkerin mit Leib und Seele ist sie nicht nur auf Trump und den Wahlausgang, sondern auch auf ihre Heimatstadt wütend: „Mein Hass war erstaunlich. Ich machte meiner Stadt Vorwürfe, das Monster im Turm hervorgebracht zu haben und jetzt nicht mehr besiegen zu können.“

Hippies als Kaninchen und Bären

Phoebe will New York und Trump hinter sich lassen, die Suche nach Arabella, der Tochter einer Freundin, ist letztlich nur Vorwand. In Charles Heist, dem wilden Detektiv, findet sie einen Verbündeten, der ein Herz für Ausreißer hat. Sie werden auf dem Mount Baldy zwei Leichen, aber keine Arabella entdecken, und bei ihrer Suche schließlich in der Mojave-Wüste ankommen, in der die Zivilisation offenbar eine Auszeit genommen hat. Dort leben zwei Clans ehemaliger Hippies, die sich Kaninchen und Bären nennen, atavistische Lebensgemeinschaften bilden, zähe, verfeindete Völker, die grausige Rituale pflegen

Lethems Beschreibungen dieser Wüstengesellschaft erinnern an postapokalyptische Szenarien aus Filmen wie „Mad Max“ oder aus den Liedern von Father John Misty, der es ebenso wie Leonard Cohen oder die Mekons auf den Soundtrack zum Buch geschafft hat, den Letham als Spotify-Playlist veröffentlicht hat. Und irgendwann als es darum geht, den nächsten Anführer des Bärenclans zu bestimmen, kommt es in einer Arena zu einem Kampf auf Leben und Tod, und Phoebe wird mit einer Waffe die Horde im Blutrausch in Schach halten und kreischen: „Kapiert ihr überhaupt, was hier los ist, ihr dämlichen Scheißarschlöcher! Habt ihr Scheißkerle überhaupt gewählt?

Die Detektivgeschichte ist nur ein Vorwand

Wieder einmal wird in einem Buch Lethems eine Utopie zu Grabe getragen. Phoebes Wut und Verbitterung sind auch die Jonathan Lethems. Er hat zwar nicht wie Phoebe seinen Job hingeschmissen, sondern schreibt weiterhin Bücher, er ist nicht aus New York City abgehauen, aber er verweigert sich dem Vertrauten. Er hat mit „Der wilde Detektiv“ einen New-York-Roman geschrieben, der nicht in New York spielt, und er sucht Zuflucht in der Genreliteratur. „Der wilde Detektiv“ ist sein erster Detektivroman seit „Motherless Brooklyn“ von 1999. Auch wenn er nicht den Privatdetektiv zum Ich-Erzähler macht, sondern die Frau, die diesen beauftragt, orientiert er sich an der Hard-Boiled-Krimi-Tradition, macht Charles Heist zu einem Nachfahren Philip Marlowes oder Sam Spades.

Doch wie für Phoebe die Suche nach Arabella ist für Lethem der Detektivplot nur Vorwand, um die Fassungslosigkeit über die US-Gesellschaft zu verarbeiten und davon zu erzählen, dass mit Trump ein mieses Zeitalter für Utopien angebrochen ist. Damit bleibt er sich dann doch treu, auch wenn er sich diesmal nur indirekt als Chronist des Großstadtmolochs New York verdingt. Denn wie alle Bücher Lethems Bücher erzählt auch dieses von politischen und sozialen Visionen, entwirft er ein Sittengemälden voller obskurer Details, inszeniert einen Erzähltrip, der ähnlich anstrengend, vital, schwer zu erfassen ist wie die Stadt, in der Lethem zu Hause ist.

Trump Tower wird zu Saurons Turm

Und er liebt es, die New Yorker Stadtbewohner zwischen Überreiztheit und Verdruss zu porträtieren: Zivilisationsmenschen wie Perkus Tooth aus „Chronic City“, der Nihilist, Kulturkritiker, Cineast und Verschwörungstheoretiker ist. Oder Rose Zimmer aus „Der Garten der Dissidenten“, die rote Königin von Queens, die die US-Kommunisten verstoßen, weil sie mit einem schwarzen Polizisten schläft. Oder eben Phoebe Siegler, die die Stadt nicht mehr ertragen kann, seit der Trump Tower, den sie „Saurons Turm“ nennt, Manhattan überschattet.

„Ich kann mich selbst nicht ohne diese Stadt vorstellen. Selbst in den Büchern, in denen New York nicht vorkommt, merkt man sofort, das sie von einem New Yorker geschrieben wurden.“ Das hat Lethem einmal in einem Interview mit unserer Zeitung gesagt. Und das trifft ganz besonders auch auf „Der wilde Detektiv“ zu: Schließlich ist New York City selbst ein utopischer Traum: „Die Stadt steht ja historisch für die Idee eines kosmopolitischen Lebens, für die Möglichkeit einer weltlichen Utopie eines Metropolis – weil die Stadt nicht auf der Idee einer nationalistischen oder religiösen Identität, sondern auf der Idee des Handels beruht. Darauf, dass jeder, der etwas anzubieten hat, herzlich willkommen ist.“ Und wenn es einen gibt, der nichts von dieser Utopie hält, dann ist der Mann, der in jenem garstigen November des Jahres 2016 einen Tag nachdem Leonard Cohen starb, an die Macht kam.