Christopher Evans in „Turangalîla“ Foto: Kiran West

Zur Eröffnung der 42. Hamburger Ballett-Tage hat John Neumeier seine Choreografie „Turangalîla“ zur gleichnamigen Sinfonie von Olivier Messiaen uraufgeführt.

Hamburg - Das Bühnenbild könnte von Mark Rothko stammen. Ein rotes Farbband glüht auf dem Gazevorhang, der das Orchester verdeckt. Davor hat sich der Ballettintendant John Neumeier von Heinrich Tröger ein weißes Arenarund als Spielfläche bauen lassen, das bis über den Orchestergraben reicht. Hinten leuchtet in der Höhe ein lichtes Kreuz, das sich später himmelartig weitet. Noch liegt darunter alles im Dunkel.

Erst später, wenn Christopher Evans endlich die leere Bühne betritt, wird es sich langsam aufhellen. Zögernd nähert er sich dem magischen Zirkel. Vorsichtig berührt er den geheiligten Boden und führt die geschlossene Hand zum Mund, als wollte er vom Wasser des ewigen Lebens kosten: ein tumber Tor, der seine Erleuchtung erwartet.

Doch erst mit der „Introduction“, erst im ersten Satz der zehnteiligen „Turangalîla-Symphonie“ von Olivier Messiaen, scheint ihm die Energie durch den kaum bekleideten Körper zu strömen, und aus der Mitte des nunmehr sichtbaren Orchesters tauchen sechs Kompagnons auf, die sich anschicken, breitbeinig ein Ballett von Maurice Béjart zu tanzen. Indes, die „Turangalîla-Symphonie“ hat sein langjähriger Gesinnungsgenosse John Neumeier interpretiert, und der lässt die Jungs in ihren hellgrauen Mönchsröcken wie unter Stromstößen erbeben. Ein starkes Entrée, das seine ganze Kraft aus einer Musik schöpft, die Olivier Messiaen 1946 im Auftrag von Serge Kussewitzky geschrieben hat: Fraglos eine der sinfonischen Großtaten des vorigen Jahrhunderts, wenngleich nicht gänzlich unumstritten, ruft man sich das harsche Verdikt eines Pierre Boulez ins Gedächtnis.

Kent Nagano ermöglicht die tänzerische Interpretation

Schon immer hat John Neumeier Messiaens Musik choreografieren wollen. Genauer: seit 1967, seit den „Oiseaux exotiques“ von John Cranko, deren Stuttgarter Erscheinungsbild er seinerzeit als Bühnen- und Kostümbildner ebenso mitgeprägt hat wie als herausragender Interpret. Allein, nach einem Prozess im Zusammenhang mit einer „Turangalîla“-Produktion von Roland Petit untersagte der Komponist jede tänzerische Interpretation seines Oeuvres – und dieses Generalverbot verhinderte bereits ein Projekt, mit dem Neumeier zum Amtsantritt vor mehr als vierzig Jahren seine Vision eines künftigen Hamburg Ballett abklären wollte.

Erst die Begegnung mit Kent Nagano, seit Anfang dieser Spielzeit Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper, ließ einen Herzenswunsch doch noch vor Vertragsende Wirklichkeit werden. Nagano, mit Messiaens Familie künstlerisch aufs Engste verbunden, erwirkte nicht nur eine Sondererlaubnis. Er dirigiert auch alle Aufführungen eines Werks, das schon von seiner Besetzung her alle Größendimensionen zu sprengen scheint.

Oliver Messiaen hätte seine Freude gehabt

Dass sich Neumeier zum Auftakt der 42. Hamburger Ballett-Tage überhaupt einer solchen Herausforderung stellt, ist schon einiger Bewunderung wert. Noch mehr, dass er sich dabei einer Eindeutigkeit versagt und dem Werk kein „Handlungsgerüst“ überstülpt. Es gibt mit Christopher Evans lediglich einen Tänzer, der an seiner Statt die musikalischen Weihen empfängt. Eben den tumben Tor, den Träumer, der gleichsam mit geschlossenen Augen in sich all das erspürt, was ein Choreograf auch äußerlich sichtbar machen muss. Vor allem das Gefühl der Liebe, das gleich im zweiten Satz, im „Chant d’amour 1“, Carsten Jung und Hélène Bouchet auf so „berührende“ Weise bewegt. Denn die Solistin bäumt sich unter seinen Händen tatsächlich auf, ohne dass das Sinnliche dabei allzu eindeutig gerät.

Bravourös hält Neumeier die Balance zwischen Ekstase und Askese, Konkretheit und Abstraktion. Und wenn das Ganze auch manchmal kryptisch wirkt, lässt der Tanz nichts zu wünschen übrig. Selbst wenn einem manches Bewegungsidiom bekannt vorkommt: Von Albert Kriemler gleichsam in fließende Farben gehüllt, erscheint das Stoffliche des Stücks seltsam verfremdet und lässt das Geistige, das dem Choreografen so wichtig ist, deshalb durchaus ahnen, selbst wenn alles vor allem schön aussieht. Olivier Messiaen hätte an der Freudensinfonie möglicherweise seine Freude gehabt. Das Premierenpublikum war ohne Zweifel begeistert.

Vorstellungen 5. und 8. Juli