Zäune, Grenzen, Mauern bestimmen das Bild der globalisierten Welt. In unserer Bildergalerie können Sie sich durch eine kleine Kulturgeschichte der Mauer klicken. Foto: Adobe Stock

Wie muss man sich Großbritannien nach dem Brexit vorstellen? Das weiß noch niemand genau – bis auf den britischen Autor John Lanchester. Sein neuer Roman „Die Mauer“ ist Buch der Stunde und unbehaglicher Albtraum zugleich.

Stuttgart - Was soll man tun, wenn alles den Bach runtergeht? Erzählen – vielleicht nimmt die Geschichte dann doch noch ein gutes Ende. Stellen wir uns also vor – was in Zeiten von Brexit-Chaos und politischem Mauerbau keine allzu schwierige Aufgabe sein sollte – , dass die Küsten Großbritanniens von einem hohen Schutzwall umgeben sind. Eine Mauer trennt die Welt, wie wir sie kennen, von dem, was kommt. Sie dichtet das Land gegen die steigenden Meeresspiegel ab und gegen Menschen, die in Schlauchbooten versuchen, unter Einsatz ihres Lebens einzudringen. Weshalb jeder junge Brite, jede junge Britin verpflichtet ist, zwei Jahre auf der „Nationalen Küstenverteidigungsbefestigung“ Dienst zu tun.

Schafft es ein sogenannter Anderer die Mauer zu überwinden und ins Land zu gelangen, wird im Gegenzug ein Verteidiger aufs Meer verbannt. Das ist der Deal, nach dessen Regeln das Leben auf der Insel im neuen Roman „Die Mauer“ von John Lanchester funktioniert.

Mit „Kapital“ wurde der englische Autor bekannt, einem auch als Serie verfilmten Roman, der die komplexen Zusammenhänge der Finanzkrisein die Straßenszenen eines noblen Londoner Viertels verlegt. Auch darin kommen unsichtbare Andere vor, die den privilegierten Bewohnern Kärtchen in den Briefkasten stecken mit der obskuren Aufschrift: „Wir wollen, was ihr habt.“

Bollwerk des Absurden

Inzwischen hat der Verteilungskampf ein neues Niveau erreicht. „Die Mauer“ ist die Antwort. Wieder ein Buch der Stunde also, so sehr, dass der Stuttgarter Klett-Cotta Verlag das Erscheinungsdatum um zwei Monate vorgezogen hat, um mit ihm jenen so chaotischen wie einschneidenden Prozess zu flankieren, an dessen Ende ein isoliertes Großbritannien stehen könnte.

Bücher der Stunde haben es an sich, dass ihre Uhr vorgeht. „Die Mauer“ spielt in einer Zeit nach dem großen Wandel. Und wer die zukunftsbesorgten Schüler vor Augen hat, die dieser Tage zu Tausenden gegen das protestieren, was ihre Eltern ihnen hinterlassen haben werden, der weiß ungefähr, was sich hinter diesem Wandel verbirgt: die Schuld einer Generation, die Welt unwiederbringlich vor die Wand gefahren zu haben, ohne zu verhindern, dass Menschen wie Joseph Kavanagh in sie hineingeboren werden.

Kavanagh ist der Ich-Erzähler des Romans, der zu Beginn seinen Dienst auf dem kalten, harten, unbarmherzigen Bollwerk des Absurden antritt. Endlose Stunden des Starrens ins Nichts, bis die dröhnende Ereignislosigkeit so unerträglich erscheint wie das Eintreffen des Ereignisses, das es um jeden Preis zu verhindern gilt: der Ansturm der Anderen. Wenn Kavanagh von den strikten Regularien seiner Ausbildung berichtet, den Abstufungen existenzieller Kältegrade, die es auf dem windigen Posten der Mauer auszuhalten gilt, blickt ihm Kafka über die eine und Orwell über die andere Schulter. Beton, Himmel, Wind, Wasser sind die Elemente eines Lebensraums, dessen Unbewohnbarkeit man sich nur entziehen kann, wenn man die Bedingungen seines Fortbestands garantiert: „Pflanz dich fort, dann kannst du gehen“, lautet die Formel, die es erlaubt, sich durch Reproduktion freizukaufen. „Fortpflanzlern“ stehen „Verweigerer“ gegenüber, die der Auffassung sind, das Recht verwirkt zu haben, die zerstörte Welt noch weiterhin zu bevölkern.

Restbestände der Normalität finden sich auf den Trümmern des Vertrauten im Landesinneren, wo zu „Dienstlingen“ versklavte Andere, die es ins Land geschafft haben, den Bessergestellten zur Hand gehen. Darüber kreisen die einer Elite vorbehaltenen Flugzeuge, unterwegs an ferne Orte, um über ausgefallene Ernten, den Zusammenbruch eines Landes oder die politische Koordination zwischen mehreren reichen Staaten zu beraten.

Der Albtraum geht weiter

Aus der Zukunft nichts Neues, alles wie gehabt: steigende Meeresspiegel, durch den Klimawandel unbewohnbare Zonen, Völkerwanderungen. Lanchester buchstabiert die Vision einer neoständischen Gesellschaft aus den Tagesresten aufmerksamer Zeitungslektüre zusammen. Und man würde seine Post-Brexit-Apokalypse wohl bald gelangweilt aus der Hand legen, ginge es nur darum, das Tagesgeschäft der Meinungsbildung mit anderen Mitteln weiterzutreiben.

Doch Literatur ist der Nacht verbunden. Und wenn ein Buch der Stunde seine Zeit hat, dann ist es die Stunde der Mitternacht. Dann öffnen sich die Pforten, die eine gut gemachte Prognose von einer intensiven Erfahrung trennen. In die wohlkalkulierten Schemen schießt Leben ein, und das Ich und die Anderen wechseln die Fronten.

Genau das passiert. Man wird immer tiefer in einen Albtraum verstrickt. Und je mehr Kavanagh Schiffbruch erleidet, desto sicherer trägt der Roman. Die Szenen, die auf dem offenen Meer der Einbildungskraft treiben, sind fern und nah zugleich. Nach der Logik des Traums verknüpft sich darin das fesselnde Garn der Abenteuergeschichte unauflöslich mit den höchst konkreten Bildern heutiger Flüchtlingsrealität.

Statt aus der privilegierten Mauerschau von oben herab blickt man plötzlich in umgekehrter Richtung aus der Froschperspektive der Ausgesetzten. Parabel und Bericht verschwimmen, und die Zukunftsvision wird immer mehr zur vorzivilisatorischen Robinsonade.

Zum Erwachen aus einem Albtraum gehört die Erleichterung. Hier ist das anders. Legt man den Roman aus der Hand, um sich der Gegenwart zuzuwenden, ist man mit babylonischen Mauerbauplänen konfrontiert, die ein ganzes Staatswesen lähmen, oder grotesken Parlamentsdebatten, die das Bestreben eines Landes begleiten, sich um jeden Preis gegen die Anderen abzugrenzen. Ist das der Wandel? Dann geht die Geschichte jetzt erst richtig los. Wie sie endet, kann man bei Lanchester nachlesen.

John Lanchester: Die Mauer. Roman. Aus dem Englischen von Dorothee Merkel. Klett-Cotta, Stuttgart. 324 Seiten, 24 Euro.