„Tänzer jammern nicht“, sagt der Ballettschul-Direktor Tadeusz Matacz. Gründe zu klagen gäbe es allerdings genug. Foto:  

Stadt und Land streiten seit Monaten ums Geld für eine neue Ballettschule. Beim Ortstermin verstummt jede Kritik an den Kosten eines Neubaus.

Der Verfall sticht in der Nase. Vermutlich sind es Gase eines Kunststoffklebers, nach denen es in diesem Ballettsaal riecht. Der Gestank will nicht weichen, seit wie vielen Jahren schon, weiß niemand mehr. Davon abgesehen ist dieser Saal der beste, den die John-Cranko-Schule den Tanzstars der Zukunft anzubieten hat. Er ist mit rund 100 Quadratmeter der größte. Er ist hell. Er heizt sich nicht zu sehr auf, nicht so sehr jedenfalls wie sein Zwilling eine Etage höher. Dort „fallen im Juli jeden Tag zwei bis drei Leute um“, sagt Tadeusz Matacz. Hochleistungssport ist eben schwer zu vereinen mit den Temperaturen, die im Hochsommer unterm Altbaudach herrschen.

Matacz leitet die Schule. Nebenan, wo gerade die Jüngsten trainieren, ist er vorhin in die Höhe gesprungen und hat an die Decke geklatscht. „Und ich bin Ballettrentner“, hat er gesagt. Soll heißen: Zwei der fünf Säle taugen allein wegen ihrer Höhe zu kaum mehr als ein wenig Gymnastik. Eigentlich taugt keiner mehr für eine der weltweit besten Ballettschulen, ganz einfach, weil auch 100 Quadratmeter zu klein sind, um Bühnenauftritte zu trainieren. Die doppelte Größe ist internationaler Standard. Die konkurrierenden Schulen rund um den Globus „sind im 21. Jahrhundert angekommen“, sagt Matacz, „wir sind im 19. stehengeblieben“.

45 Millionen Euro sind für Abriss plus Neubau geplant

An diesem Abend gibt er gleichsam den Fremdenführer. Die Freien Wähler sind gekommen, um das Haus zu besichtigen, über das Stadt und Land seit Monaten streiten. 45 Millionen Euro soll der Abriss plus Neubau an gleicher Stelle kosten. Das ist der letzte Stand der Dinge, nachdem die Sparkommissare den Rotstift ansetzten, zuletzt noch bei Ausstattung und Schallschutz. „Ich bin zuversichtlich, dass wir jetzt belastbare Zahlen haben“, sagt der geschäftsführende Staatstheater-Intendant Marc-Oliver Hendricks, „es sei denn, man wartet noch drei Jahre“. Der Nachsatz darf als Mahnung an die Parlamentarier verstanden werden. Es eilt mit einem Neubau.

Im Gemeinderat haben die Freien Wähler am lautesten über die Kosten für ihn genörgelt. Das ändert sich heute. „Es ist peinlich“, sagt der Fraktionsvorsitzende Jürgen Zeeb, „man kann es nicht begreifen“. Gelegentlich hilft es Politikern, zu sehen, worüber sie entscheiden. Am offensichtlichsten wird die Platznot im Schulinternat. „Hier wohnen Vincent, Kevin, Henrick und Alexey“ steht auf einem Plakat an einer Tür. Sie wohnen etwa auf der Fläche, die der Staat Asylbewerbern gönnt: 4,5 Quadratmeter pro Kopf. Die Betten stehen nebeneinander. Privatsphäre gibt es nicht. Weil gerade mehr Jungen ausgebildet werden, ist die Geschlechtertrennung aufgehoben.

Im Gegensatz zu Asylbewerbern zahlen die Eltern der Schüler Internatsgebühr, und hier protestiert niemand gegen unzumutbare Zustände, nicht einmal darüber, dass sich zwölf Schüler eine Dusche teilen. Abends nach dem Training, „stehen die Kinder davor an“, sagt die Erzieherin Carmen Weinmann. Ein Tänzer klagt nie. So erklärt es Matacz. „Das ist ein Beruf für die letzten Idealisten der Welt“, sagt er, „man jammert nicht“.

Der Tischkicker steht in einem fensterlosen Keller

Gründe zu jammern gäbe es genug in einem Haus, das ohnehin nur notdürftig umgebaut wurde, nachdem es vor 42 Jahren der Schwabenverlag verließ, um nach Ruit zu ziehen. Schon der Blick aus den Fenstern wäre einer. Er fällt wahlweise auf Straßen oder Hinterhöfe. Mit diesem Ausblick feiert die Tanzjugend aus aller Welt Weihnachten. Insofern ist es gleichgültig, dass die Tischtennisplatte und der Tischkicker in einem fensterlosen Keller stehen, durch den Abwasserrohre verlaufen.

An der Tür neben den Rohren informiert ein Zettel, an welchen Tagen hinter ihr orthopädische Untersuchungen angeboten werden. „Das sind Hochleistungssportler“, sagt Matacz, „der Physiotherapieraum ist eine Notwendigkeit, kein Luxus“. Luxus ist ohnehin nicht das Wort, das sich aufdrängt. Neben einer Massagebank steht eine Waage, von der unklar ist, ob sie vor oder nach dem Zweiten Weltkrieg hergestellt wurde. Hinter einem Vorhang zieht sich ein Tanzlehrer um, denn der Behandlungsraum dient auch als Umkleidekabine.

An der Wand tickt eine Uhr, die nebenbei dafür wirbt, dass Obermoffner Großküchentechnik ihrer Zeit voraus sei, eine Firma, die längst vergessen ist. Der Luxus sind die fünf Uhren im Erdgeschoss, die die Zeit in Metropolen wie Miami oder Tokio anzeigen. Sie sind neu gekauft – bei Ikea.