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Hässliche Schlagzeilen vertrieben ihn aus London – in Stuttgart gelang Cranko ein Ballettwunder.

Stuttgart - Vor 50 Jahren, am 16. Januar 1961, wurde John Cranko zum Ballettmeister der Württembergischen Staatstheater ernannt. Was den Briten nach Stuttgart brachte und mit welchen Zweifeln er die Stelle antrat, lässt sich in den Erinnerungen des damaligen Intendanten Walter Erich Schäfer nachlesen.

John Cranko sei scheinbar durch einen Zufall nach Stuttgart gekommen, so notierte es Walter Erich Schäfer, glaubte aber insgeheim an ein "verdeckt wirkendes Schicksal". Ganz offen mitgestrickt an John Crankos Schicksalsfäden hatte auf alle Fälle die Londoner Boulevardpresse - ihr und Svetlana Beriosova, der großen Tänzerin des Royal Ballet, haben wir vielleicht das Stuttgarter Ballettwunder zu verdanken. Als der aus Südafrika stammende Choreograf nämlich nach einer Anzeige wegen "homosexueller Vergehen" in die Schlagzeilen geraten war, bat die Beriosova ihren Vater, der damals Ballettmeister in Stuttgart war, etwas für ihren Freund zu tun. Nicolas Beriosoff ging zu seinem Intendanten, klagte über Überarbeitung und schlug Schäfer vor: "Holen wir doch einen Gast. Da gibt es in London beim Royal Ballet zwei Youngsters, von denen man spricht, MacMillan und Cranko. Cranko hätte im Augenblick Zeit, wie ich zufällig von meiner Tochter gehört habe."

Nachlesen lassen sich diese Zeilen im Programmbuch, das zum Festival anlässlich von Crankos 70. Geburtstag 1997 herauskam. Spannend wird das Zeitdokument im Dialog mit den Eindrücken, die Cranko selbst von seinen Stuttgarter Anfängen notierte. Erschienen waren sie in einer Festschrift zum 70. Geburtstag Schäfers. "Mehr aus Zufall als aus Absicht befinde ich mich in Stuttgart, um meinen ,Pagodenprinz' auf deren Bühne wieder neues Leben einzuhauchen", blickte Cranko 1971 zurück. "Ich bin verblüfft über die Struktur eines deutschen Staatstheaters mit festen Anstellungsverträgen, bezahltem Urlaub, gesichertem Budget, brauchbarer Technik. Ich bin freilich noch so sehr mit den Usancen und dem Prestige des Royal Ballet verbunden, dass ich das nicht gebührend zu würdigen vermag - bis der Mann in seinem Büro aus Königlichen Hoftheater-Zeiten mich fragt, ob ich die Leitung des Balletts seines Hauses übernehmen wollte."

"Der Pagodenprinz" hatte Schäfer zwar nicht restlos überzeugt, er vermisste die Ökonomie, den Blick für das, was zu viel ist. "Gleichwohl blühte aus dem Ganzen wie aus jeder Szene ein solches Leben, ein solches Glück, da zu sein und zu tanzen, die Einfälle entladen sich in Kaskaden, auf der Basis des klassischen Balletts erwuchs Modernes und verband sich mit der Basis zu Einheit und Echtheit, so dass mir klar war: Hier ist nicht nur Jugend und Zukunft, sondern hier ist das", schrieb Schäfer, "was wir brauchen."

Cranko, dessen Londoner Karriere Ende der 1950er Jahre einer Achterbahnfahrt glich, sagte nicht spontan Ja zu Stuttgart. Dass Deutschland, bis damals von der Entwicklung des Balletts stiefkindlich behandelt, für diese Kunst eine Art jungfräulicher Boden wäre, gefiel ihm. Er hatte ein ganz anderes Bedenken: "Ich kann einen Mann wie Beriosoff nicht aus seiner Stellung verdrängen. Ich würde das nie verwinden", sagte er zu Schäfer. Der war jedoch so von Crankos Talent überzeugt, dass er ihm den Weg freiräumte - und auch auf die anderen Bedingungen Crankos einging.

Zu sehr war dem Choreografen das Haus Schäfers nämlich auf die Oper ausgerichtet. "Sind Sie bereit, das zu ändern, um etwas aufzubauen, was es nirgendwo in Deutschland gibt, eine unabhängige Kompanie, die eben nicht nur als Diener der Oper fungiert?" Und auch der Intendant navigierte geschickt, wie Cranko festhielt, versprach nur das Machbare, nicht das Unmögliche, die Fortschritte kamen erst millimeterweise. "Erst ein paar Tänzer mehr, dann ein paar Vorstellungen mehr, aus dem Ballettmeister wird ein Ballettdirektor, versehen mit einem Assistenten."

Der Rest ist hinlänglich bekannt: Mit "Romeo und Julia", Crankos Stuttgarter Fassung hatte am 2. Dezember 1962 Premiere, war das Stuttgarter Ballett geboren, das heimische Publikum lag seinen Stars zu Füßen; mit "Onegin" gelang der Kompanie dann 1969 beim Gastspiel an der Met in New York das berühmte Wunder. In kurzer Zeit hatte, so schrieb Schäfer, Cranko ein Ensemble aufgebaut, das seinesgleichen suchte - und die Basis für einen Erfolg gelegt, den seine Nachfolger Glen Tetley, Marcia Haydée und Reid Anderson klug pflegten und pflegen.

Ihren 50. Geburtstag feiert die Kompanie entsprechend mit einem großen Fest im Februar , mit den "Initialen R.B.M.E" ist schon heute Crankos letztes Meisterwerk zu sehen, das Schäfer als Dank an seine Kompanie und ihre Solisten Richard Cragun, Birgit Keil, Marcia Haydée und Egon Madsen beschreibt, "die er geschaffen hat, für die er geschaffen hat und die durch ihre Qualität und Hingabe seine Schöpfungen erst wirklich ermöglichte."

Öfter habe Cranko über die Gewissheit gesprochen, dass er früh sterben werde, notierte Schäfer. "Und so war der Tod, den er gestorben ist, gewiss sein Tod: inmitten seiner geliebten Kompanie in einem Flugzeug, das mit 900 Stundenkilometern über den Atlantik brauste, so stürmisch wie sein schönes und kurzes Leben gewesen war."