Pfarrer Heinrich Schmid vor dem Portal der Johanneskirche im Stuttgarter Westen Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Auf Spurensuche: In unserer Serie „Stuttgarter Entdeckungen“ wollen wir mit Hilfe unserer Leser Geschichten aufspüren, die in vielen Winkeln der Stadt verborgen sind. Wir blicken auf Orte, Fassaden und Bauwerke, die sich nicht auf den ersten Blick erklären. Diesmal: die Johanneskirche und ihre fehlende Spitze.

Stuttgart - Sie gehört zu den beliebtesten Fotomotiven im Stuttgarter Kessel: Die Johanneskirche im Westen thront majestätisch auf einer Halbinsel im Feuersee. Von drei Seiten ist sie frei zu sehen, von der vierten führt die Johannesstraße, einstige Prachtmeile des jungen Bezirks, direkt auf sie zu. Doch eines irritiert und macht die Kirche gleichermaßen ganz besonders: Die Spitze des Turmes fehlt.

Im Oktober 1943 brannte durch Funkenflug der Dachstuhl ab

Die Erklärung für das Verschwinden liegt nahe. „Durch Bomben im Zweiten Weltkrieg ist die Kirche zerstört worden“, sagt Pfarrer Heinrich Schmid, seit sechs Jahren Seelsorger der evangelischen Johannesgemeinde. Erst brannte im Oktober 1943 durch Funkenflug der Dachstuhl ab, das Gewölbe stürzte ein. Im Frühjahr 1944 erwischte es schließlich die Spitze des filigranen Turms. Damals ist er noch 66 Meter hoch gewesen. Heute sind nur noch 45 Meter davon übrig.

Warum aber hat man die Spitze nicht wiederaufgebaut? Laut Schmid gibt es dafür mehrere Gründe. „Damals zählte die Gemeinde 9000 Menschen. Weil das Pfarrhaus und das Gemeindezentrum ebenfalls zerstört gewesen sind, brauchte man dringend Räume“, erzählt er. Nach und nach bespielte man deshalb die Kirche. Erst in der Sakristei für den Konfirmandenunterricht, später auch im Kirchenschiff. Das zerstörte Kreuzrippengewölbe wurde dafür abgehängt.

Wiederaufbau wäre statisch schwierig gewesen

Beim Turm beschränkte sich die spätere Restaurierung auf den Teil bis zum Glockenstuhl. „Er stand damals einfach nicht im Mittelpunkt“, sagt Schmid. Zudem fehlte das Geld, und es gab ein Gutachten, das aussagte, der komplette Wiederaufbau sei aus statischen Gründen schwierig.

So blieb die Johanneskirche zunächst ohne Turmspitze. Und daran änderte sich nichts, obwohl im Lauf der Zeit immer wieder Diskussionen darüber aufgekommen sind. Nach und nach setzte sich vielmehr eine andere Sicht durch, die direkt nach der Zerstörung noch keine große Rolle gespielt hatte: Der Rumpfturm gilt inzwischen als Mahnmal gegen den Krieg.

„Wir selbst verstehen unsere Kirche so. Sie symbolisiert auch die eigene Schuldgeschichte Deutschlands und der Kirche“, sagt Pfarrer Schmid. Das sei in unserer Zeit wichtiger denn je, „denn Krieg wird überall praktiziert“.

Auch in Zukunft soll es keine neue Spitze geben

Dementsprechend dürfte die Johanneskirche auch in Zukunft keine Spitze mehr bekommen. Sie ist inzwischen, obgleich gar nicht da, zum Markenzeichen geworden. „Selbst wenn es Pläne gäbe, würden sich die Gemeinde und auch ich wohl dagegen aussprechen“, sagt Schmid. Mittlerweile gehören nur noch 3000 Menschen dazu – und die nutzen nach dem Verkauf anderer Räume die Kirche auch als Gemeindesaal.

Bei Bedarf werden dort Tische aufgebaut, neben Gottesdiensten gibt es dort auch Konzerte und viele Trauungen. Das Mahnmal gegen Tod und Zerstörung ist sehr lebendig.

Und schon immer etwas Besonderes gewesen. Die Kirche im neugotischen Stil ist zwischen 1865 und 1876 von Oberbaudirektor Christian Friedrich von Leins als erste Stuttgarter Kirche nach der Reformation erbaut worden. In prächtiger Lage. Dafür wurde der damals dreieckige und ziemlich heruntergekommene Feuersee neu angelegt. Die Kirche steht wegen des schlammigen Untergrundes auf 660 Pfählen. „Der Architekt hat sie geradezu visionhaft erhöht“, sagt Schmid, „dabei ist sie gar nicht so groß, wie sie durch ihre exponierte Lage wirkt.“

Bürger sammelten 18 Jahre lang Geld für den Bau

Dringend nötig gewesen ist sie damals, weil die Stuttgarter Bevölkerung extrem wuchs und nicht genügend evangelische Kirchen vorhanden waren. Die Bürger sammelten 18 Jahre lang Geld für den Bau. Entstanden ist eine der schönsten Kirchen dieser Zeit. „Sie ist großartig, für unsere Gemeinde aber keine Kulisse. Wir leben darin“, sagt Pfarrer Schmid.

Das Wüten des Krieges zeigt sich bis heute nicht nur am Turm. „Man sieht überall Spuren der Zerstörung“, weiß Schmid. So fehlt beim genauen Hinschauen fast jeder der steinernen Skulpturen im Inneren etwas. Wo beispielsweise einem Engel der Flügel abhandengekommen ist, hat man bei der Restaurierung Wert darauf gelegt, dass die frühere Bruchstelle erkennbar bleibt.

Ein beliebtes Gerücht bewahrheitet sich allerdings nicht. Die zerstörte Spitze findet sich nicht im Garten der Lukasgemeinde im Stuttgarter Osten. Dort lagert zwar tatsächlich ein Stück der Johanneskirche, allerdings hat es nichts mit den Kriegszerstörungen zu tun.

„Es handelt sich um ein Natursteinwerkstück der Johanneskirche, das im Zuge der Außensanierung 2004 ersetzt worden ist“, sagt Thilo Mrutzek von der Bauabteilung der Evangelischen Kirchenpflege. Zwar auch eine Spitze, allerdings nur von einem der vielen kleinen Ziertürmchen.

So bleibt die große Turmspitze zerstreut in alle Winde. Und die Johanneskirche ein Mahnmal. Ein sehr beliebtes obendrein. „Ich staune immer wieder, wie viele Leute hierherkommen, um zu beten, zu heiraten, oder einfach nur, weil die Kirche ein so tolles Gebäude ist“, schwärmt Pfarrer Schmid.

Die Johanneskirche ist an mehreren Tagen in der Woche offen, manchmal führen Fachkundige hindurch. Nähere Informationen gibt es beim Pfarramt unter Telefon 07 11 / 62 80 19.