Foto: Wagner

Wie kaum eine andere Weltstadt hat sich Stuttgart als globales Dorf herausgeputzt.

Stuttgart - Wie kaum eine andere Weltstadt hat sich Stuttgart als globales Dorf herausgeputzt, die Beweise dafür findet man im Vorgarten des Bahnhof-Torsos. Es ist Sonntag, im Biergarten spielen Die Kirchberger, aus dem Rheinischen angereiste Tanzmusiker, und wie immer, wenn ich auf eine Tanzkapelle treffe, singt sie "Mendocino". Merkwürdigerweise sind um mich herum einige noch sehr junge Menschen in der Lage, "Mendocino" mitzusummen, und ich frage mich, welche lieblosen grünen Kindergärtnerinnen unseren Gangsta-Rappern einst den Respekt verweigert haben.

Vor der Bühne tanzt man Foxtrott, einige Damen, Vorbotinnen des schwäbischen Volksfestes auf dem Wasen, stecken in bayerischen Dirndln. Hätte eine Frau im Dirndl je mit mir Foxtrott getanzt, wäre mein Leben aufregender verlaufen. Ich säße heute im Knast von Stammheim.

Wenn man vom Bahnhof Richtung Norden geht, gelangt man über die Steinwüste hinter der BW-Bank an einen Ort, den die Rathaus-Herrschaften im Global-Rausch "Mailänder Platz" getauft haben. Auf diesem Gelände steht, wie eine vorsintflutliche Raumstation in der Leere, die neue Stadtbibliothek, im Volksmund als Bücher-Knast bekannt. Bei dem Gebäude handelt es sich um einen monumentalen Würfel, das Symbol für Beton-Stuttgart: Willkommen in der Zocker-Hauptstadt.

Das architektonische Global-Dorf-Menü

Keine Frage, nach der Eröffnung wird eine virtuose Computersteuerung das Innenleben des literarischen Sicherheitstrakts beherrschen, und vom Dach aus lässt sich der Ideenreichtum heimischer Baukunst genießen: auf dem Schlossplatz ein Kubus, hinterm Bahnhof ein Würfel - das architektonische Global-Dorf-Menü aus Kraut und Rüben.

Die Umgebung hat für die Architektur der neuen Stadtbücherei - sie heißt jetzt "Library" (Bibliothek) - keine Rolle gespielt. Darauf kommt es auch nicht an. Stadtplanung in Casino City entsteht am Spieltisch. Um einen mondänen Glanz des Quartiers zu simulieren und provinzielle Flurnamen in der schwäbischen DirndlFiliale zu verhindern, hat man Plätze und Straßen nach europäischen Metropolen benannt. Entsprechend weltläufig der Name Mailänder Platz. Zur Einweihung werden Die Kirchberger spielen und der Investoren-Chor unter der Leitung des Oberbürgermeisters jodeln: "This land is your land / this land is mai länd . . ."

Pardon, der Kalauer ist mir rausgerutscht, kommt vor in einer Stadt, in der man ein Killesberg-Viertel ernsthaft "Think K" tauft. Die Bibliothekslandschaft dagegen heißt bescheiden "Europaviertel". Ein "Europaplatz" war nicht mehr vorrätig, weil man damit bereits ein anderes stadtplanerisches Jahrhundertprojekt geadelt hat, auf dem Fasanenhof.

Der Herr würfelt mit

Es läge, dächte man naiv wie ich, auf der Hand, den Bücherplatz nach einem Dichter oder Denker zu benennen, auch wenn Hegel und Schiller schon vergeben sind (und die Nazis Heinrich Heine als Straßenname getilgt haben). Einige Menschen wären womöglich glücklich, könnten sie über einen Loriot- oder Vicco-vonBülow-Platz flanieren, auch wenn ihnen in dieser Stadt das Lachen vergangen ist. Bekanntlich hat der große Komiker eine Stuttgarter Vergangenheit, weil er anders als viele Mailänder einige Jahre das Eberhard-Ludwigs-Gymnasium besucht hat. Leider aber war er ein deutscher Komiker; aus künstlerischen Gründen wollte er seine Arbeiten nicht in Fremdsprachen übersetzen lassen. Deshalb taugt er nicht für den Anspruch der Weltstadt Stuttgart 21.

Wenn wir demnächst Mailänder Latte schlürfend auf dem Bibliothek-Dach sitzen, werden wir zwanzig Minuten früher als zuvor Ulm erblicken, ehe wir zum Biergarten in den umgepflügten Schlossgarten gehen. Schon bald, habe ich gelesen, macht dort, in der Nachbarschaft unserer Zeltindianer, die Kapelle Indian Summer "Cowboymusik". Spätestens dann muss der Schlossgarten mit Blick über das armselige Europa hinaus "Central Park" heißen.

Es kann nichts schiefgehen. Der SPD-Politiker Schmiedel, die Ludwigsburger Ein-Mann-Version der bayerischen Niedertrachtenkapelle, hat neulich auf dem Schlossplatz verkündet: "Über Stuttgart 21 liegt Gottes Segen . . . Wir sind die Guten." Nach diesen klaren, von spirituellem Geist getränkten Worten, gibt es keinen Zweifel: Der Herr würfelt mit.