Stuttgart 21 Foto: dpa

Gibt's sonst noch was? Die ganze Republik kennt uns nur noch als Stuttgart-21-Stadt.

Heute beginnt im Beethovensaal das Stuttgarter Musikfest, und ein Veranstalter des Klassik-Marathons erwartet "Festspielgefühl in der ganzen Stadt". Ein lustiger Wunsch. Festival-Feeling herrscht seit Wochen in der Stadt. Der Sound allerdings kommt von Trillerpfeifen und Vuvuzelas, von Rätschen und Blechschüsseln.

Verschanzt im Hof hinter den Trutzburgmauern des Alten Schlosses, mag unser amtierender Weindorfbürgermeister Schuster noch so verbissen die totale Kirmes ausrufen. Am äußeren Eindruck ändert das Trinkgelage nichts: Die ganze Republik kennt uns nur noch als Stuttgart-21-Stadt.

Die "Frankfurter Allgemeine" illustrierte gestern ihre Titelseite mit den Sieben Schwaben, die eine Lanze auf den Schultern tragen. Spielt Stuttgarts "Schwabenstreich", fragt das Blatt, auf ihren legendären Kampf gegen ein Monster an, das sich als Hase herausstellt? Oder auf die antimuslimischen Verse des schwäbischen Dichters und Politikers Ludwig Uhland: "Zur Rechten sieht man, wie zur Linken, / Einen halben Türken heruntersinken."

Anders als frühere Kreuzzüge findet der "Schwabenstreich" heute in der Heimat statt. Ihm sich zu entziehen wird selbst für die schwierig, die der Bahnhof nicht kümmert, weil sie ihr Glück auf Billigflügen nach Mallorca oder bei Porsche-Touren nach München suchen. Jeder steckt mal im Stau bei Demonstrationen.

Viel härter trifft es alle, die im Protest gegen Stuttgart 21 ihre Privatheit verlieren. Selbst bei Liebespaaren stellt sich immer öfter die Gewissensfrage: entweder ICH oder DEIN verdammter Bahnhof. Kompromisse sind nicht möglich. Die Gegner bestehen auf Schubladen. Jeder, der sich gegen S 21 stellt, und sei es nur, weil er die Milliardennummer nicht politischen Kleindarstellern wie Schuster, Mappus oder Drexler zutraut, wird kategorisch zugeordnet. Etwa als "Parkschützer" - selbst wenn ihm die Esoterik-Fraktion dieser vielschichtigen Gruppierung so angenehm erscheint wie unsere Machtbacke.

Begriffen wird auch nicht, dass der Stuttgarter Protest über das Bauprojekt hinausgeht. So erklärt sich der späte Beginn der Auflehnung. Die richtet sich in unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten eindeutig gegen die da oben. Aus Politikverdrossenheit wurden Zorn und Wut. Die bis jetzt meist friedliche Popfestival-Atmosphäre - der Protest erinnert manchmal an die WM-Partys 2006 - sollte da nicht täuschen.

Auf der anderen Seite sagt keiner, dass sich hochkarätige S-21-Befürworter, darunter Baufachleute, lange raushielten oder immer noch schweigen, weil sie aus Angst um ihren Ruf die Nähe von Politikern wie Oettinger/Mappus und Schuster fürchten.

Liest man im Internet (ohne das der schnell gesteuerte Protest nicht möglich wäre) die Meinungen der S-21-Kontrahenten, fühlt man sich wie im Kalten Krieg. Der ideologische Stacheldraht ist zwar weg, es gibt nur einen Bauzaun. Aber die Mauer in den Köpfen steht: Am "Geh doch rüber!"-Denken hat sich nichts geändert.

Den Seelenkonflikt in der Frage, wie weit sich das Leben dem S-21-Protest unterzuordnen hat, schilderte mir ein junger, engagierter S-21-Gegner: Einerseits sei er stolz, dass 30 000 demonstrieren. Andererseits werde er immer noch blass, wenn er viel mehr Leute beim unbekümmerten Shoppen in der Fußgängerzone zähle - und das Flehen alter Freunde höre: Bitte, lasst uns wenigstens unsere Königstraße! Da konkurriert S 21 mit H & M und Telekom.

Es gäbe viel zu reden. Im Rathaus aber hat man die Tür verrammelt. Der OB meldet sich schriftlich. Politiker erweisen sich als Akten-Ordner. Als Repräsentanten der Stadt und ihrer Bürger haben sie versagt.