Joe Bauer schaut auf den Hauptbahnhof in Stuttgart. Foto: Lichtgut/Piechowski

Unser Kolumnist Joe Bauer kennt Stuttgart wie kaum ein anderer. Lesen Sie hier, wie er den Hauptbahnhof und seine Protagonisten erlebt.

Stuttgart - Unter Sehnsucht versteht man ein schmerzliches Begehren, eine Art Krankheit, die einen auffressen kann, weil sich der Leidende selbst verzehrt. Einer der Auslöser dieser Krankheit ist der Drang abzuhauen.

Solche Gedanken schwirrten mir durch den Kopf, als ich an einem Novembersonntag zum Bahnhof ging. Sonntags herrscht im Bahnhof mehr Hektik als sonst, und in den Gesichtern der Menschen ist selten zu erkennen, ob sie fröhlich den nächsten Zug raus aus dem Alltag nehmen oder in ihren Frustmontag hineinfahren.

Läpische Hochglanzfotos im Hauptbahnhof

Überhaupt sind Menschen heute schwer einzuordnen: Einige Jungs, die in Guerillaklamotten an mir vorbeigehen, würde ich nicht zu den Kampfprofis zählen. Ein zum Gleis eilendes Kerlchen mit Camouflage-Kostüm, roten Backen und Barett hingegen kann ich eindeutig den neuen Kindersoldaten der Bundeswehr zuordnen.

Der Hauptbahnhof ist ein Depressionsbunker, seit die Fahrgäste durch zwei provisorisch angelegte, mit läppischen Hochglanzfotos dekorierte Tunnel zu ihren Bahnsteigen gehen müssen. Wie so oft hatte ich keinen triftigen Grund, die Ruine des Bonatz-Baus aufzusuchen. Es war ein Gefühl, das mich trieb. Tage zuvor hatte ich in der Zeitung diese Meldung gelesen: „Gleich drei ausgebüxte Kinder hat die Bundespolizei am Dienstag im Hauptbahnhof in Zügen und auf einem Bahnsteig entdeckt und ihren Eltern übergeben. Die zwei Mädchen und der Junge sind elf bis 13 Jahre alt.“

Ich werde diese Kinder wohl nie treffen, was sehr schade ist, weil ich sie aus der Ferne bewundere. Besorgte Eltern könnten mir vorhalten, nur ein gewissenloser Idiot verurteile das Verhalten dieser Kinder nicht auf das Schärfste und warne nicht eindringlich vor Nachahmung. An besagtem Sonntag jedoch war es so kalt, dass ich meinen pädagogischen Zeigefinger vorsichtshalber in der Hosentasche ließ.

Wollten sie weiter nach Wien oder Mailand, nach Zürich oder Schorndorf?

Keine Ahnung, warum die Kinder flüchteten, welche Sehnsucht sie verführte zu ihrem großen Schritt. Das Verb „ausbüxen“ verleiht ihrer Flucht eher etwas Heiteres und wird ihr vermutlich nicht gerecht. Zwei der Ausreißer, ein elfjähriges Mädchen und ein 13-jähriger Junge, sind Geschwister – nennen wir sie Hänsel und Gretel, weil in einer Sehnsuchtsgeschichte heutige Namen wie Liam oder Mila ziemlich peinlich klängen. Das allein reisende Mädchen, nennen wir es Schneewittchen, war ebenfalls 13 Jahre alt. Das Tour-Duo kam aus Nordrhein-Westfalen, die Solistin aus Hessen. Ich frage mich, warum sie alle eine Fahrt zum Stuttgarter Kopfbahnhof gewählt hatten. Wollten sie weiter nach Wien oder Mailand, nach Zürich oder Schorndorf?

Die Nummer, einfach abzuhauen, beeindruckt mich seit jeher. Ich dachte schon, die kleinen Fluchten junger Menschen aus den verdammten Zwängen des Lebens fänden nur noch mithilfe von Computern statt. Jetzt weiß ich: Die Sehnsucht der Ausreißer lebt. Huck Finn und Tom Sawyer sind nicht tot, und Tschick, ihr literarischer Kollege der Gegenwart, war erst neulich im Kino zu sehen. Nach wie vor steht er auch auf der Bühne im Theaterhaus.

Vom Zapfhahn bis Gleis 16

Im Bahnhof finde ich keinerlei Spuren der Kinder. In der nördlichen Imbissstation mit dem himmlischen Namen „Zapfhahn“ warten nach Kimi Raikkönens Unfall ein paar Hähne auf die Fortsetzung des Formel-1-Rennens in São Paulo. Über der Fensterwand des Wartesaals fällt mir das Tolstoi-Zitat ins Auge: „Alles nimmt ein gutes Ende für den, der warten kann.“ Und in der abgelegenen Bahnhofsmission am Gleis 16 sagt mir ein junger Mitarbeiter, vor seiner Arbeit an diesem Ort habe er nicht geahnt, wie viele Arme es in Stuttgart gebe. Sein älterer Kollege nickt schweigend.

Vor der Bahnhofsmission steht ein Mann mit Akkordeon. Er sei Ungar und schlafe im Park, sagt er. Als ich ihm ein paar Euro gebe, beginnt er zu singen und zu spielen. Nach ein paar Takten Polka kommen zwei Uniformierte der Bahn und befehlen ihm aufzuhören. Du kannst in diesem Bahnhof heute kein Lied mehr zu Ende singen: Der Bahnhof würde vollends einstürzen. Endstation Sehnsucht. Meine Visite in der Bahnhofsmission führte mich etwas weg von den Kindern. Doch hatte ich noch genügend Sehnsucht in mir: Besagte Zeitungsmeldung war mir nur aufgefallen, weil ich kurz zuvor den neuen Roman meines alten Freunds Klaus Bittermann zu Ende gelesen hatte. Seit 37 Jahren betreibt er mit viel Courage den Berliner Kleinverlag Edition Tiamat – und fast genauso lange bewahrte er eine Polizeimeldung der „Nürnberger Nachrichten“ auf, die ihm jetzt den Stoff für seinen Roman lieferte: „Sid Schlebrowskis kurzer Sommer der Anarchie und seine Suche nach dem Glück“.

Stuttgart und eine traurige Wahrheit

Eine bewegende Sehnsuchtsgeschichte, ein zeitgenössisches Märchen mit realem Hintergrund: „Im Südtiroler Sterzing ist ein Gaunerpärchen gefasst worden“, heißt es in der Meldung. „Monatelang hatten die 16-jährige Nancy W. und ihr 17-jähriger Freund Michael S. von Hoteldiebstählen gelebt. Die 16-jährige war im Mai von zu Hause ausgerissen und mit ihrem Freund Michael durch die Wintersportorte gezogen. Das junge Paar hinterließ in Luxushotels unbezahlte Rechnungen und bestohlene Gäste. Das Mädchen trat betont selbstbewusst auf. Es trug stets einen Pelzmantel.“

Mit dramaturgischer Raffinesse und trockenem Humor führt uns Bittermann zu Banditen, Punks und Revolutionären. Vor allem aber erzählt er uns eine berührende Liebesgeschichte. Rein technisch hat das alles mit meinem Bahnhofsvorfall wenig zu tun: Sid, der Sohn eines geistig angezählten Boxers, und Nancy, die gebildete Tochter aus reichem Haus, gehen nicht wie brave Kinder mit dem ICE, sondern wie gute Gangster mit Porsche und Alfa Romeo auf Tour. Entsprechend ist das Tempo dieses skurrilen und spannenden Abenteuers.

Ich hoffe, dass ich Hänsel und Gretel und Schneewittchen eines Tages begegnen werde. Ich bin einer, der warten kann. Womöglich verbirgt sich hinter meiner Polizeimeldung eine traurige Wahrheit: Kein Mensch voller Sehnsüchte flüchtet ohne Not nach Stuttgart.

Der Flaneursalon

Joe Bauers Flaneursalon, die Lieder- und Geschichtenshow, ist am Sonntag, 11. Dezember, 19 Uhr, in der Rosenau. Gäste sind die Kabarettistin Christine Prayon, die Musiker Steve Bimamisa & Thabilé, Toba Borke & Pheel. Karten: www.rosenau-stuttgart.de – Tel.: 0 18 06 / 70 07 33.