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Joe Bauer meint, dass der getretene Ball und das geschriebene Wort nicht überall zusammen passen.

Stuttgart - Der deutsche Dichter Günter Grass fuhr mal eine Weile in Stuttgarter Straßenbahnen spazieren. Faltenfrei klebte er an der Waggon-Decke, und seine Gesellschaft habe ich in bester Erinnerung. Als Straßenbahn-Passagier zwar nicht leibhaftig anwesend, stand doch sein berühmter Name unter einem seiner schönsten Gedichte. Zum Glück nicht so lang wie ein Gedicht von Schiller, konnte ich es mir trotz meines Alters bis heute in voller Länge merken: „Einsam stand der Dichter im Tor, / doch der Schiedsrichter pfiff: Abseits.“

Auf den ersten Blick könnte man das Werk für ein Fußball-Gedicht halten, auch weil einige berühmte Schriftsteller im Nebenberuf das Tor hüteten, so Vladimir Nabokov, Walter Jens, Albert Camus. Von Camus stammt der vielzitierte Satz: „Alles, was ich über Moral und die Pflichten der Menschen weiß, verdanke ich dem Fußball.“

Eine Zeitungskolumne böte nicht genügend Platz, eine Exegese von Grass’ Keeper-Lyrik zu starten, auch weil ich kein Stadionverbot riskieren will, nicht einmal beim VfB. Auch passen getretener Ball und geschriebenes Wort nicht überall zusammen. Der VfB-Präsident Mäuser, 54, hat deshalb die baden-württembergische Initiative „kicken und lesen“ davor gewarnt, junge Menschen mit Goethe und Schiller zu demotivieren. Diese verstaubten Dichter seien völlig ungeeignet, das Interesse junger Menschen an Literatur zu wecken.

Es wäre falsch zu glauben, Herr Mäuser habe nie Zugang zur Literatur gehabt. Vor seinem VfB-Job arbeitete er als Marketingmanager bei Porsche, in einem Haus, wo der Wortchef Anton Hunger viele Jahre lang als ambitionierter Autor seine Liebe zur Sprache und zu gutem Stil auslebte.

Herr Mäuser jedoch scheint mit seinem literarischen Diskurs weniger dem Porsche-Poeten zu folgen, als vielmehr seinem berühmtesten Vorgänger auf dem Präsidentenstuhl nachzueifern: dem großen deutschen Wortführer Gerhard Mayer-Vorfelder. Der startete einst, auch in seinem Nebenjob als Kultusminister, einen Kulturkrieg gegen die Klassiker Hölderlin und Brecht. Als MV unlängst mit Hilfe eines Lohnschreibers seine Biografie „Ein stürmisches Leben“ veröffentlichte, erfuhr der geneigte Leser einiges über MVs beinharten Kampf für das deutsche Volkslied, das Auswendiglernen von Gedichten und die „Werke der deutschen Hochliteratur“.

Ob er Goethe und Schiller dazu zählte, steht nicht geschrieben. Schiller vielleicht schon, weil der sich lange im Einzugsgebiet des VfB herumgetrieben hatte, ehe er nach Mannheim fliehen musste. Hölderlin war nicht ganz so stuttgarterisch orientiert und noch radikaler als Schiller. Auch Brecht war, bei aller Liebe zum Auswendiglernen von Gedichten, Mayer-Vorfelder ideologisch ein Dorn im Holzauge. Als passionierter Auto-Narr und überzeugter Roter nämlich hätte der Dichter perfekt ins halbseidene MV-Milieu gepasst. Herr Mäuser scheint Mayer-Vorfelders Spuren als vielseitig begabter Kulturkritiker und Denkmalstürmer in großem Stil zu folgen. Noch bevor der VfB-Boss neulich Sportreporter der literarischen Gattung des Schmierfinken zuordnete, hatte er nicht nur den Stürmer und Dränger Schiller ins Abseits gestellt, sondern auch den jungen VfB-Stürmer Schieber rhetorisch getunnelt.

Geiles Marketing.

Vor diesem Hintergrund ist es schade, dass die Stadt bei der bevorstehenden EM auf das Public Viewing, das Glotzen in Massen, aus finanziellen Gründen verzichtet. Da Herr Mäuser als Schirmherr der Aktion „kicken und lesen“ inzwischen gefeuert wurde, wäre er die Idealbesetzung als Herrscher über die Video-Schirme. Bei der Disziplin Public Viewing steht ja weniger die literarische Debatte über gute Fußballjugend-Lektüre im Vordergrund. Eher geht es, pädagogisch wertvoll, um die geschlossene Mannschaftsleistung der Stadtreinigung nach den Glanztaten junger Talente beim Public Drinking und Public Pissing.

Man möchte Herrn Mäuser bei Gott nicht raten nachzulesen, was Literatur mit Fußball zu tun hat. Warum Fußball dem kulturellen Brückenschlag in der Welt heute mehr dient denn je. Jorge Valdano, 56, der ehemalige argentinische Nationalspieler und spätere Direktor von Real Madrid, zitiert in seinen großartigen Fußball-Texten mal Shakespeare, mal Jorge Luis Borges. Und bei solchem Mist kann einem die Lust aufs Kicken und Lesen schnell vergehen, wenn man eben noch damit beschäftigt war, den Spielberichtsbogen zu begreifen.

Einsam stand der Tor vor dem Dichter, doch der Schiedsrichter sagte: Pfeif drauf.