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Fast fünfzigtausend Autos rollen täglich durch die Pragstraße. Doch ich bin zu Fuß kein Abgas-Problem.

Stuttgart - Fast fünfzigtausend Autos rollen täglich durch die Pragstraße. Da abgasmäßig nicht zwingend mit zusätzlichen Problemen zu rechnen ist, wenn unsereins die Strecke vom Pragsattel nach Cannstatt zu Fuß zurücklegt, ziehe ich los. Kein weiter Weg, ein Spaziergängerklacks. Unten angekommen, rechter Hand die Straßenbahnhaltestelle Glockenstraße vor Augen, ist der Giftgestank so unerträglich, dass ich das ganze Elend auf Bad Cannstatt schiebe. Cannstatt, dieses Vorstadtgebräu.

Eigentlich hätte ich keinen Grund gehabt, die vierspurige Stadtautoahn entlangzustiefeln, wo der schöne Rosensteinpark an die andere Seite der Rennstrecke grenzt. Pfeif auf die grüne Lunge, sagte ich mir, man muss sich mit dem Stuttgarter Stinkerleben arrangieren. Vielleicht hatten es mir hoch über der nördlichen Straßenseite die Landespolizeidirektion im ehemaligen Bosch-Krankenhaus und vor meiner Nase die weiteren Posten derselben Firma angetan. Vielleicht auch das ganze andere Theater. Im Hinterhof der Pragstraße, unterhalb der Löwentorstraße, geht seit einiger Zeit das Ensemble des Staatsschauspiels auf die Bühne, neuerdings auch mit Stücken, die fürs Stammhaus am Eckensee gedacht waren. Bekanntlich sind die Mimen der Farce namens Fortschritt der weltberühmten deutschen Ingenieurs- und Planungskunst zum Opfer gefallen. Solche Dinge passieren in unserer kleinen Stadt immer öfter beim Streben nach Weltruhm.

Noch bevor ich abbiege in Richtung neues Künstlerquartier (auch Eric Gauthiers Tanzkompanie hat hier, in der Theaterhaus-Probebühne, eine Bleibe gefunden), kommt es zu einer denkwürdigen Begegnung. Ich muss nicht extra erwähnen, dass es regnete an diesem Tag. Es gibt Gegenden, die sehen immer aus, als habe Gott seinen großen Pisskübel in die Kulisse eingebaut. Auf dem Gehsteig sehe ich vor meinen Stiefeln ein graues Knäuel mit Schwanz. Mausetot, doch zweifelsfrei eine Ratte. Zwei Jungs mit Schulranzen treffen am Tatort ein. Sie kommen aus der Altenburgschule vom Hallschlag. Der eine stößt mit dem Fuß gegen das graue Knäuel und sagt: „Scheiße, Scheiße!“ „Cool, Mann, cool“, sage ich, „ist bloß eine tote Ratte.“ „Es gibt hier zu viele Ratten“, sagt der Junge, „mein Vater legt jeden Abend Rattengift aus.“

Die Jungs gehen zügig weiter, ich war ihnen wohl nicht geheuer mit meiner Frage-rei nach Ratten und so. Sie verschwinden in einem Wohnhaus in der unteren Pragstraße, in einem dieser geheimnisvollen, schlanken, verlebten Gebäude. Teils aus Sandstein, reichlich bestückt mit Satellitenschüsseln, stehen sie verloren herum wie unheimliche Zeugen der Vergangenheit, glückliche, womöglich auch unglückliche Überlebende der schweren Bombenangriffe auf die Industrie im Stuttgarter Norden gegen Ende des Zweiten Weltkriegs.

Ein Anreiz, die Pragstraße nachmittags entlangzuspazieren, ist für mich die Tatsache, dass so etwas kein vernünftiger Mensch freiwillig tut. Was aber könnte ich bei näherer Beschäftigung über den hohen Norden für Geschichten erfahren, über die Prag, die man vermutlich nach dem keltischen Wort „Barg“ (Hügel, Nacken) benannt hat und damit viele tschechisch gefärbte Irrtümer in die Welt setzte. Zwischen zwanzig- und dreißigtausend Menschen haben noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg in den Fabriken an der Pragstraße gearbeitet. Ihre Produkte, etwa schwere Druckplatten, braucht heute keiner mehr. In der Firma Eckardt für Elektro-Anlagen brennt noch Licht, durchs Fenster kann ich ein paar Menschen bei der Arbeit sehen.

Erfahrungsgemäß wird in einigen toten Ecken der Stadt erstaunlich viel getüftelt, gewerkelt und inszeniert, oft im Schatten bekannter Adressen. So ist vielen der Club Zapata ein Begriff, dieser energie- und fantasiewütige Musik- und Performance-Dschungel auf dem Areal von Wizigmann. Wer aber stolpert zwischen Prag- und Löwentorstraße in die originellen Ateliers gegenüber dem Schauspiel Nord? Hier arbeitet der Kameramann und Filmtechniker Frank Wurster im Atelier Kinomatik, im selben Haus findet man das Filmstudio Blaufisch, den Zaubertrick-Designer Andreas Meinhardt und den Licht-Roboter-Künstler Joachim „Fletchy“ Fleischer.

Hin und wieder verirren sich nebenan ein paar durstige Streuner in den Laden „Bar Baresco“, nicht ahnend, dass sie nicht in einem Lokal landen. Essam, der Lieferwagenfahrer, klärt mich auf: Der Lagerraum beherbergt Vorräte des italienischen Piemont-Weins Barbaresco.

High wie ein Pattex-Schnüffler schlage ich mich am Ende meiner Tour bis zum Wilhelmaplatz durch, stehe vor der Gaststätte Adler, einer Kneipe, wo es die Halbe für zwei Euro gibt. Ihre schmiedeeiserne Handwerkskunst über dem Eingang und die Fenster mit der originalen Bleiverglasung der früheren Brauerei Wulle erinnern an bessere Cannstatter Zeiten. Ich winke dem Fahrer eines asiatischen Droschkenmodells und flüchte mit ihm über den Neckar. Es gibt Orte und Tage, wo du keinen Nerv hast, auf eine Bahn zu warten und deshalb auch den Rest der Stadt vergast.