Blick auf das Leonhardsviertel Foto: Kraufmann

In meinem privaten Email-Postfach finde ich die Aufforderung, ein Seelen-Seminar zu besuchen.

Es ist ein sonniger Morgen vor Ostern, als ich in meiner elektronischen Privatpost die Aufforderung finde, ein Seelen-Seminar zu besuchen: "Häufig", teilt mir die Praxis für Schamanismus mit, "versperren tiefe Ängste und Unsicherheiten den Weg in eine gesunde Selbstliebe, Lebensfreude, sinnliches Körpergefühl und erfüllende Sexualität." Ich will schon zusagen, da stoße ich auf die Zeilen: "Dieses Wochenende widmen wir uns der Heilung und Erweckung deiner Weiblichkeit . . . Die weibliche Ur-Kraft ist die Quelle leidenschaftlicher Wildheit, knospender Zartheit . . ."

Weil ich morgens immer in Unterhosen am Laptop sitze, ziehe ich mit dem Daumen rasch den Gummibund des Slips nach vorn, schaue nach, ob alles in Ordnung ist, dann packe ich Laptop und Fernglas in meinen Sack und gehe zur Straßenbahn.

Ziel Café Stella, Hauptstätter Straße. Es ist Zeit, die neue Freiluftschreibsaison zu eröffnen. An der Hauptstätter Straße riecht die Stadt besonders typisch nach Kessel-Stuttgart. Autos und Lastwagen krachen auf der B 14 vorbei, man fühlt sich wie in einem chaotisch geschnittenen Film.

Mein Beobachtungsposten ist kein Ort des Zufalls an diesem Morgen. Tags zuvor hat mich Herr Kohfink vom Amt für Umweltschutz aufs Schwabenzentrum klettern lassen. Das Wort klettern mag etwas übertrieben klingen, am Ende aber muss man eine steile Treppenleiter nehmen, um aus 25 Metern Höhe auf die Stadt zu sehen.

Die Sonne schien mir auf die Mütze, ich konnte viel Stuttgart genießen, dieses immer wieder herrliche Stuttgart von oben, und ich dachte: Verdammt, das ist eine wilde Nummer am frühen Morgen. Der alte Kater auf dem heißen Blechdach. Über ihm der Himmel und Liz Taylor, die Katze.

Tatsächlich ist das Dach des Schwabenzentrums aus Blech und so hässlich wie das ganze Gebäude. Mit Schwindelgefühl und Sehnsucht sehe ich die kleinen Dachterrassen auf den alten Häusern an der Hauptstätter Straße zwischen Leonhards- und Wilhelmsplatz. Vielleicht verwandeln sie sich eines Tages in Gemüsegärten.

Blick auf die Reste der vergessenen Altstadt. Hier spielt die Musik (im urbanen Bix Jazzclub und im tapferen Live-Club Kiste), hier findet man gute Geschichten (im Brunnenwirt und im Rotlicht), hier erkennt man, wie Stuttgart Charakter verliert (kaputte Barock-Architektur).

Die Hauptstätter Straße, denke ich auf dem Schwabenzentrum, muss mal eine großstädtische Schönheit gewesen sein. Die Straße, schreibt Hartmut Ellrich in seinem Bildband "Das historische Stuttgart", sei ein Beispiel für zerstörte "Stadträume". Ihr architektonisches Vorbild war einst der Prager Wenzelsplatz, ein 50 Meter breiter, 700 Meter langer Prachtboulevard. Übrig geblieben ist die Autobahn, betörend wie ein motorisiertes Tranchiermesser.

Man hat die Straße nicht, wie ich früher glaubte, nach dem Wort Hauptstadt benannt. Der Name geht zurück auf den blutigen Horror der Hauptstätte: So hieß der Hinrichtungsort auf dem Wilhelmsplatz (daran sollten die kalauernden Scherenschleifer denken, wenn sie morgen ihr Friseurgeschäft "Hauptsache" nennen).

Im Café Stella kann man, wie an der Theodor-Heuss-Straße und ähnlichen Rennstrecken, am Straßenrand einen Drink nehmen. Unsere Luft werde immer besser, ist in der Zeitung zu lesen, und daran zweifle ich nicht, seit ich auf dem Blechdach war. Dort befindet sich eine der letzten städtischen Klima-Messstationen. Deshalb bin ich hinaufgestiegen.

Es ist ja schwieriger denn je, etwas über das Klima der Stadt zu sagen. Im Moment allerdings hilft mir keine Messstation für Stickoxide, Ozon und Feinstaub. Es ist ein Graus zu sehen, woher der Wind weht. Wie sich die altvorderen Land-Sozen Drexler und Schmiedel über das angebliche Dagegensein protestierender Bürger ereifern. Wie ihr zart knospender Zögling Schmid dazu aufruft, Parkschützer aus den Bäumen zu holen - und sich in der Stadt aufspielt, als müsse er sich beim Brusttrommeln im heimischen Urwald beweisen. Auch der Genosse Baubürgermeister Hahn passt gut ins sozikulturelle Klima, wenn er die Zukunft der Stadt aus seinem Siebziger-Jahre-Winkel im Tunnel der Shopping-Malls sieht.

Vor dem Café an der Hauptstätter Straße, unter dem Sonnenschirm von Lucky Strike, zündet sich eine junge Schamanin eine Zigarette an. Die Stöpsel ihres Telefons in den Ohren, raucht sie mit weiblicher Urkraft, knospender Wildheit und erfüllendem Sex. Das ist Stuttgart.

Joe Bauers Flaneursalon gastiert am Donnerstag, 5. Mai, in der Straßenbahnwelt, Cannstatt. Musik machen Stefan Hiss, Dacia Bridges & Alex Scholpp, durch den Abend führt Michael Gaedt. Beginn: 20 Uhr. Karten: 07 11 / 78 85 77 70.