Letzte Ausfahrt Neugereut Foto: aa

Unserem Stadtspaziergänger Joe Bauer wird im Rotlichtviertel eine Anekdote serviert, ehe er nach Neugereut fährt – und sich den Kopf zerbricht über die Brüche im Kessel.

Stuttgart - Es ist mein Spaziergängerprivileg, im realen Leben Clint Eastwoods uralter Western-Dramaturgie zu folgen: „Ein Mann reitet in die Stadt, der Rest ergibt sich.“ Klingt selbst dann verlockend, wenn du auf der Straßenbahnlinie 2 nach Neugereut reitest. Auf solchen Schattenrouten ergibt es sich nur selten, dass sich nichts ergibt.

Unsereins zieht durch die Stadt in der Hoffnung, sie sei anders, als sie ist. Die Cannstatter Haltestellen Wilhelmsplatz, Daimlerplatz und Kursaal habe ich hinter mir, als nach der Oberen Ziegelei die Prärie zu beginnen scheint. Wenig später, am Hauptfriedhof, sieht es aus, als führe ich aufs tiefste Land. Tatsächlich bin ich immer noch in Stuttgart, auf dem Weg zur Endstation Neugereut.

Keine Ahung, was der Name bedeutet

Stadt bedeutet, etwas aufzuschnappen, Geschichten gegen die Verschlafenheit. In der Altstadt, auf dem Weg zur Straßenbahn, hat mir ein alter Bekannter aus dem Rotlichtmilieu auf die Schulter geklopft. „Junge, Zeit vergeht“, hat er in gebrochenem Deutsch gesagt. „Weißt du noch, früher bin ich immer im Brett gewesen. Habe ich Schlägerei gehabt. Croissant hat mich aus dem Knast geholt. Kennst du noch? Zwei Tage später war er selber im Knast. Konnte leider nix für ihn tun.“ Die Rede war von Klaus Croissant, dem RAF-Anwalt, 1931 in Kirchheim unter Teck geboren, lange in Stuttgart tätig, 2002 in Berlin gestorben.

Eine halbe Stunde später sitze ich nicht im Brett im Bohnenviertel, sondern im Lümmelbrett in Neugereut. Keine Ahnung, was der Name bedeutet. Mithilfe meines Taschentelefons finde ich einen Eintrag über die Architektur der Unilever-Konzernzentrale in der Hamburger Hafen-City: „Die sogenannten Lümmelbretter, an den Geländern aufgehängte, filzbezogene Platten, auf denen Laptops und Kaffeetassen für die schnelle Besprechung zwischendurch Platz finden.“ Reisen bildet.

Frau Gretsch hat viel zu tun

In der kleinen Kneipe Lümmelbrett plaudere ich mit einem Rentner, der von Hofen am Neckar mit dem Bus nach Neugereut gekommen ist. Macht er öfter, um etwas auf der Bank zu erledigen, seit sie in Hofen die Filiale geschlossen haben. Die nördliche Siedlung Neugereut, 8000 Einwohner, in den siebziger Jahren mit hochgelobter Architektur gebaut, scheint mir besser ausgestattet. In diesem Sommer wurde die Renovierung des Ladenzentrums abgeschlossen. Ich komme am Bäcker Sailer vorbei, es gibt eine Poststelle, eine Apotheke, Supermärkte, eine Bibliothek, das Neugereuter Theäterle, die Jörg-Ratgeb-Schule. In den drei Wahllokalen dieser Schule kam die AfD bei der Bundestagswahl 2017 auf durchschnittlich mehr als 20 Prozent.

Im Beratungsbüro Neugereut Aktiv, einer Einrichtung der Gesellschaft für Jugendsozialarbeit und Bildungsförderung e.V., arbeitet Heide Gretsch. Viele Neugereuter der ersten Generation seien inzwischen verstorben, sagt sie, und immer mehr Migranten in die Siedlung gekommen. Frau Gretsch hat viel zu tun. Langzeitarbeitslose suchen Rat, auch Neuankömmlinge, die noch nicht Deutsch sprechen. Gerade war eine junge Frau da, die eine Zahnspange braucht. Das Büro wird mithilfe des EUSozialfonds finanziert. Ende des Jahres läuft der Subventionsvertrag aus, ein neuer Antrag ist gestellt. Hoffen wir das Beste.

Als Spaziergänger mache ich die Erfahrung, dass die grundsätzlichen Verhältnisse einer Stadt nicht mit Kosmetik zu ändern sind. Man kann Orte befrieden, aber ihre Probleme tauchen woanders wieder auf. Heute interessiert es mich weniger als früher, ob eine sogenannte Problemzone wie der Österreichische Platz „aufgewertet“ wird. Längst habe ich mich mit der Paulinenstraße, dieser skurrilen Meile mit ihren Bars und Läden, bestens arrangiert, nicht minder mit dem chaotisch betonierten Wildwuchs des Cannstatter Wilhemsplatzes.

Städte mit Brüchen am spannendsten

Keine Frage, es ist nicht falsch, an der verstaubten Paulinenbrücke Parkplätze und Autos zu reduzieren. Was soll’s. Für die Menschen in Neugereut, in ähnlichen Siedlungen wie Freiberg oder Mönchsfeld, Giebel oder Hausen, ist dieser Ort weiter weg als der Mond. Das Gerede von der „Urbanität“, stets mit provinziellem Blick auf Berlin, Wien oder am besten gleich New York, beschränkt sich auf die engstirnige Aktionitis in der Innenstadt. Im Innern wird die Stadt aufpoliert als Marketingprojekt. Draußen sieht die Welt anders aus.

Neulich habe ich in der Berliner „taz“ ein Interview mit Stephan Trüby gelesen; er ist Professor für Architektur und Kulturtheorie und Direktor des Instituts für Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGMA) der Universität Stuttgart. Vor Kurzem erregte er Aufsehen, als er nachwies, dass die Initiative zur Rekonstruktion der Frankfurter Altstadt von einem rechtsradikalen Bündnis ausging – und wie die Rechten heute überall versuchen, die Stadtplanung zu beeinflussen. Prompt finde ich auf der Webseite der Stuttgarter AfD-Fraktion Sätze, die „eine weitgehende Wiederherstellung des historischen Marktplatzes analog dem Wiederaufbau historischer Quartiere in Frankfurts Stadtzentrum“ propagieren.

Im Interview gefragt, welche Stadt er „architektonisch am spannendsten“ finde, sagt Trüby: „Städte mit Brüchen. Mit ablesbarer Geschichte. Dazu zähle ich eine Metropole wie London, auch moderne Großstädte wie Rotterdam oder Stuttgart. In diesen Städten wird man immer wieder mit vermeintlich Unpassendem konfrontiert. Das setzt das Denken frei.“ Vorausgesetzt, man respektiert die Brüche und schaut über den Kosmetiktiegel hinaus.