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Das Straßenleben am Hölderlinplatz blüht und gedeiht. Nur die Standuhr ist stehengeblieben.

Stuttagrt - Es ist kein Verbrechen, Zeit zu verschwenden. Am Ende ist es wurscht, ob man sie totgeschlagen hat. Abgelaufen wäre sie so oder so. Die Zeit ist ein philosophisches Problem, und in meinem Alter hat man zum Glück nicht mehr die Zeit, es zu lösen.

Fakt ist, dass am Hölderlinplatz eine Standuhr steht. Es ist nichts Ungewöhnliches, wenn eine Standuhr steht. Leider aber stehen seit langem auch ihre Zeiger. Es sieht aus, als sei die Zeit nicht nur stehengeblieben. Sie hat sich aus dem laufenden Betrieb verabschiedet.

Neben der Standuhr gibt es einen Zeitungskiosk. Das heißt: Es gab mal einen. Die Betonbude, nicht wesentlich größer als ein Karton aus dem benachbarten Schuhgeschäft, steht zwar noch. Allerdings hat man den Rollladen auf eine Weise heruntergelassen, die jede Hoffnung zunichtemacht. Vor einigen Jahren noch hat hier Frau Balogh Zeitungen und Illustrierte verkauft. Auf dem Tresen standen Gläser mit eingelegten Paprikascheiben, und im Notfall gab es einen Magenbitter. Eines Tages war Frau Balogh weg und der Kiosk dicht.

Heute ist es immer zehn nach zwei

Jedes Mal, wenn ich am Hölderlinplatz aus dem 41er-Bus steige und die Standuhr neben dem Fernsehgeschäft Eberle sehe, muss ich an Frau Balogh denken. Nicht selten erschienen mir ihre Einmachgläser als der einzige Orientierungspunkt im Warnlichter-Chaos am Hölderlinplatz.

Am Hölderlinplatz gibt es so viele Ampeln, dass daneben keine Uhr eine Überlebenschance hat. Ich weiß nicht mehr, an welchem Tag die Uhr stehengeblieben ist. Spielt keine Rolle. Heute ist es immer zehn nach zwei oder fünf vor viertel drei. Tatsache ist: Uhren im öffentlichen Raum haben ausgespielt. Schon einige Male habe ich Leser-Mails mit der Aufforderung erhalten, ich solle mich endlich um die verdammten Uhren kümmern. Um die schönen Uhren, die es nicht mehr gibt.

Die öffentliche Uhr verschwindet aus dem Stadtbild. In der urbanen Möblierung spielt sie keine Rolle mehr. An etlichen Haltestellen hat man die Uhr abmontiert, ohne dass einer deswegen die Alarmglocke geläutet hat. Vermutlich ist es der Straßenbahngesellschaft zu teuer, die Zeit anzuzeigen, wo man doch keine mehr hat.

Putzt man Fenster eigentlich immer noch mit Zeitungspapier?

In der Stadt ist es schon lange fünf vor zwölf. Die Superzeitgemäßen steuern ihre Bulldozer ohne Respekt vor Raum und Zeit gegen die Würde und das Bad Berg. Man könnte glauben, mit den Uhren habe auch die Zeit ausgedient. Man spricht nicht mehr von Zeit. Man labert von Zeitfenstern und Zeitkorridoren. Diese Begriffe sollen die Hohlheiten zeitgemäßer Marketingmanager kaschieren. Im Bahnhof hängt ein zeitgemäßes Werbeposter für kalten Kaffee aus dem Plastikbecher: "Unser Beitrag zur Bahnhofs-Debatte: erst mal abkühlen".

Ich erhalte Mails mit der Frage, wie mein Zeitfenster aussehe. Versifft, antworte ich, seit Jahren hat es keiner geputzt. Putzt man Fenster eigentlich immer noch mit Zeitungspapier? Mir hat man gesagt, Zeitungspapier sei das Beste, um Fenster blank zu wienern. Etwas Glasreiniger auf die Scheibe - dann mit einer zusammengeknüllten Zeitungskolumne wischen, bis sich im Glas die Bartstoppeln spiegeln. Warum aber hat dann Frau Baloghs Kiosk geschlossen? Poliert denn keiner mehr sein Fenster mit gutem Zeitungspapier?

Seltsam. Das Straßenleben am Hölderlinplatz blüht und gedeiht. Nur die öffentliche Uhr steht depressiv herum wie ein Baum, den nie ein Hund anpisst.

Die Zeit, das ist mein Trost, läuft. Sie läuft auch ohne öffentliche Uhr. Die großen öffentlichen Agenten hinter ihren Zeitfenstern brauchen nicht zu glauben, sie würden unsterblich, weil die öffentliche Uhr ausstirbt. Die Zeiten ändern sich bei Zeiten, und bis zur Sekunde ist offen, wem die Stunde als Nächstem schlägt.