Science-Fiction hinter dem Bauzaun am Hauptbahnhof Foto: Wagner

Im Bahnhof steht der "Herzelstand". Die Älteren unter uns kennen es noch: "Das neue Herz Europas".

Vor den Gleisen im Hauptbahnhof steht der "Herzelstand". An dieser Bude gibt es Produkte von der Sorte, die auch für Stuttgart 21 werben. Die Älteren unter uns wissen es noch: Auf den knallroten S-21-Herzen stand früher "Das neue Herz Europas". Dann aber sickerte sogar in die Großkotzhirne der S-21-Werber die Nachricht durch, dass der Spruch nur provinzielle Plattheit widerspiegelt, und so machte man schnell etwas Geld locker, um das Herz mit einer neuen Floskel zu besudeln: "Die guten Argumente überwiegen".

Vergleichsweise hochintelligente Slogans findet man auf den Lebkuchen am Herzelstand: "Opa Du bist Spitze", "Süßes Bärle", "Mein kleiner Strolch".

Die Zeit der kleinen Strolche ist vorbei. An der Nordseite des Hauptbahnhofs hat man hinter dem Bauzaun eine acht mal vierzig Meter große Propagandawand aufgestellt. Die ist nachts beleuchtet. Das Monstrum zeigt eine Art Fototapete, wie man sie in den siebziger Jahren gern in muffige Haushalte geklebt hat. Die Fototapete war das Kino der kleinen Geister, Illusionsvorlage für Fantasielose. (Aus England hört man gerade die Kunde, diese Dinger seien wieder schwer im Kommen.)

Offiziell nennt man die Fotowand am Bahnhof "Infotafel". Die Bild-Information besteht aus einer mit Computern gestalteten Stuttgart-21-Landschaft. Darauf sieht man den nordflügelamputierten Bonatz-Bau mit dem Turm im Hintergrund, links davon Kuppeln & Bullaugen. Dieser gläserne Teil des virtuellen Orts wirkt neben den Resten des Bonatz-Baus so unrealistisch klein, dass man - vor lauter Verniedlichung gerührt - ein Lebkuchenherz dazuhängen möchte: "Süßes Bärle". Es ist auch viel Baumgrün im Bild, und die verblüffend ausführliche Information der Informationstafel bringt Licht ins Dunkel: "Der neue Stuttgarter Hauptbahnhof - schneller, komfortabler, zukunftsorientiert".

Interessant ist die Wortkombination "zukunftsorientiert". Ich weiß nicht, was damit gemeint ist. Der Mensch an sich ist zukunftsorientiert. Seine Uhr läuft, er kann nicht sagen: Heute ist Dienstag, ich bin vergangenheitsorientiert, ich beginne gestern von vorne. Und bei Gott nicht erst gestern hat die Zukunftsorientierung von Stuttgart 21 begonnen. Das Milliardending geht auf die Anfänge der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurück, und heute muss man lachen, wenn man sieht, wie man sich damals die Zukunft vorgestellt hat. Jedenfalls ganz anders als heute. Sonst hätte man auch eine aktuelle Fototapete mit den Wasserrohren hingeklebt, die sich in Zukunft gut sichtbar 17 Kilometer durch das schöne Stuttgart ziehen.

Mein Tapetenvergleich, ich weiß, ist nicht ganz korrekt. Die Propagandawand stellt ein (angeblich) 2020 fertiges Produkt dar. Ich Hinterwäldler dagegen orientiere mich beim Blick auf die verrohrte Stadt vergleichsweise an der Vergangenheit, nämlich am Jahr 2013 oder so. Dennoch wäre ich bereit, 100 Euro darauf zu wetten, dass die aufgebockten Röhren auch noch im Jahr 2020 die Stadt verschandeln - sofern ich wüsste, ob der Euro, Stuttgart 21 & ich noch eine Zukunft haben.

Die Idee, die Stadt mit acht mal vierzig Meter großen Fiktionsszenen zuzukleistern, hat Zukunft: Heute geht es in der Politik immer um die Macht der Bilder. Der Baubürgermeister sollte an der Adenauerstraße einen Straßendeckel mit Park und in der Dorotheenstraße das Hotel Silber projizieren. Auch der Nesenbach wäre ruck, zuck wieder in die Stadt geknipst.

Die Fototapete ist die ultimative Lösung der Stuttgarter Stadtplanung. Diese Form der Stadtmöblierung erspart den Architekten die scheinheilige Pflicht, von bereits zerstörten Baudenkmälern die Fassaden stehen zu lassen. Zukunftsorientierung, das lehrt uns die S-21-Propaganda, ist die Darstellung von Illusionspolitik. Man sollte dem Propaganda-Chef für seine Wiederbelebung der Fototapete einen Informationslebkuchen aus der Herzelbude um den Hals hängen: "Opa Du bist Spitze".