Joschka Fischer mit Megafon, 1967 vor dem US-Konsulat in Stuttgart Foto: Kraufmann

Joe Bauer über den jungen Joschka Fischer und den Club Voltaire in der Leonhardstraße.  

Der Begriff Achtundsechziger ist Unsinn. Mit welchem Recht könnte man den Altlinken Peter Grohmann heute einen Achtundsechziger nennen? Als ihm 1968 in der Stuttgarter Altstadt gelegentlich ein gewisser Joschka Fischer begegnet, steht Grohmann bereits auf der falschen Seite. Fischer ist 1948 geboren, Grohmann 1937, und die APO hat das politische Todesurteil gefällt: "Trau keinem über 30."

1968 bekämpfen sich Mündel und Vormund im Krieg der Generationen.

Heute startet Pepe Danquarts Dokumentarfilm "Joschka und Herr Fischer" in den Kinos. "Joschka Fischers Wurzeln wurden in Stuttgart gelegt", sagt der Regisseur, "diese Zeit hat ihn politisch geprägt."

Es ist ein paar Tage her. Wenn der verkrachte Gymnasiast und spätere Außenminister Joschka Fischer seine ersten Seminare in Marxismus, Jazzmusik und sexueller Befreiung besuchte, musste er an Huren und Zuhältern vorbei. Mitten im Stuttgarter Rotlichtviertel, in der Leonhardstraße 8, war der Club Voltaire. Zurzeit wird bei der Nummer 8 mal wieder umgebaut. Nachbarn erzählen, es entstehe ein neuer Puff.

Sie überzeugen als disziplinierte Arbeiter.

Als Peter Grohmann und seine linken Freunde 1964 nach Frankfurter Vorbild ihren politisch-literarischen Club Voltaire gründen und ihn ein Jahr später eröffnen, gehört das Haus dem Plieninger Bäcker Fröschle. Der schaut sich seine Mieter genau an. Mit dem Strich haben sie nichts zu tun. Sie sind auch keine suspekten Studenten oder langhaarigen Gammler. Sie überzeugen als disziplinierte Arbeiter. Grohmann ist Schriftsetzer, Genosse Willi Hoss Schweißer beim Daimler, ihr intellektueller Kopf Fritz Lamm Angestellter und Betriebsrat der "Stuttgarter Zeitung".

Gut, dass Willi Hoss schweißen kann. Bedingt legal baut er beim Daimler eine eiserne Wendeltreppe, um im Club Voltaire die Verbindung zwischen der Bühne im Keller und der Kneipe im Erdgeschoss herzustellen. Werner Schretzmeier, Jahrgang 1944, tritt in den Sechzigern mit seinem Schorndorfer Kabarett "Die Widerständler" im Keller auf, die Treppe hat er bis heute vor Augen: "Dieses Monstrum hat den kompletten Raum geprägt, es war nur zwei Meter von der Bühne weg. Ständig gingen Leute rauf und runter, es war sehr schwierig, sich zu konzentrieren."

Das Auf und Ab im roten Domizil des Rotlichtviertels ist symptomatisch. Alles ist in Bewegung. Während Schretzmeiers Truppe mit schwarzen Rollkragenpullis und dunklen Brillen in Unistädten wie Tübingen oder Freiburg auf respektvolles Theaterpublikum trifft, herrscht in Stuttgart bereits antiautoritäre Dynamik.

Einer der Unruhestifter in diesem Milieu ist Joschka Fischer, als Sohn eines ungarndeutschen Metzgers in Oeffingen gelandet. 1965 hat Joschka das Cannstatter Daimler-Gymnasium abgebrochen, er beginnt in Fellbach eine Fotografenlehre, lässt sich aber vorwiegend im Club Voltaire ausbilden. Er ist 17, als alles anfängt.

Der charismatische Lehrmeister im Club Voltaire heißt Fritz Lamm. 1911 in Stettin geboren, hat er eine bewegende Vergangenheit hinter sich. Während der Nazi-Diktatur mehrfach verhaftet, flieht er über Frankreich und Casablanca nach Havanna. Erst 1948 kann er zurück nach Deutschland, er geht nach Stuttgart. Der gelernte Journalist, ein jüdischer Sozialist alter Schule, wird 1963 aus der SPD ausgeschlossen. Lamms Freunde schätzten ihren Mentor als Ehrenmann und großen Rhetoriker. Er pflegt einen weltmännischen Stil, verkehrt im Altstadtlokal Café Weiß - und wird wegen seiner Homosexualität immer wieder von Sozialdemokraten verleumdet. "Es war schlimm", sagt Grohmann.

Anders als die Studentenbühnen hat der Club Voltaire seine Wurzeln in der Arbeiterbewegung, die Gründerväter kommen wie Willi Hoss aus der KPD und deren Umfeld. Sie veranstalten Lesungen, Diskussionen, Konzerte. Liedermacher wie FranzJosef Degenhardt und Dieter Süverkrüp, Satiriker wie Clodwig Poth und F. K. Waechter treten auf. Eine wichtige Rolle spielt der Pianist Wolfgang Dauner. Kaum ein anderer symbolisiert wie er die kulturellen Pole des Clubs: Dauner ist gelernter Mechaniker und studierter Musiker.

Legendär die Geschichte, wie Fischer Grohmann beim Renovieren des versifften Kellers stört.

In diese Atmosphäre platzt der junge Joschka als schnöselhafter, rebellischer Pennäler. Begleitet von einer Dame im Pelzmantel (worunter sie geklaute Bücher verbirgt), nimmt der junge Herr Fischer die Altvorderen aufs Korn. Legendär die Geschichte, wie er Grohmann beim Renovieren des versifften Kellers stört. Der Hobbymaler, glücklich, Geld für weiße Farbe aufgetrieben zu haben, streicht gerade die Wände, als sich Fischer vor ihm mit der ideologisch relevanten Frage aufbaut, was der kleinbürgerliche Scheiß zu bedeuten habe. Während er spricht, schnippt Fischer seine Kippe in den Farbeimer und kommentiert die Show mit dem Slogan: "Schöner Wohnen!" "Es war schwierig, mit diesen Dingen umzugehen", sagt Grohmann. "Autoritäres Eingreifen war ja tabu." Das galt auch, wenn Eltern im Club anriefen, weil sie ihre Tochter suchten.

Im Rotlicht, wo damals auch die Weinstube Widmer und das Theater der Altstadt experimentierfreudige Kundschaft anziehen, reift der Club Voltaire zur Informationsbörse der politischen Subkultur. Joschka Fischer aber strebt nach Höherem. Nach seiner ersten gescheiterten Ehe (mit der Tochter eines Kornwestheimer Kriminalbeamten) zieht es ihn 1968 in die linke Szene von Frankfurt. Er wird Taxifahrer, ehe er in die Dienstlimousine des grünen Starpolitikers steigt. Da ist der Club Voltaire längst verschwunden, im Haus Nummer 6 eröffnet Mitte der Siebziger ein Animierschuppen namens Bierorgel.

Fritz Lamm stirbt 1977, Willi Hoss 2003. Zehn Jahre nach dem Ende der Ära Voltaire greifen der frühere Hobbykabarettist Schretzmeier und der inzwischen professionelle Kabarettist Grohmann erneut an, sie gründen das Theaterhaus Wangen. Wie es die Geschichte will: Auch Stuttgarts erste große Alternativbühne eröffnet neben einem Straßenstrich. Heute steht das Haus auf der Prag, weit weg von rot gefärbter Subkultur. Subventionen leistet neuerdings ein grüner Ministerpräsident.