Türsteher beim Wirt am Berg Foto: Kraufmann

Ich kenne mich nicht aus in Stuttgart, und andere, die hier wohnen, auch nicht.

Ich kenne mich nicht aus in Stuttgart, und andere, die hier wohnen, auch nicht. Es ist eine Schande. Habe neulich eine Blitzumfrage gemacht: Wer weiß, wo die Gaisburgstraße ist? Keiner hat es gewusst. Zur Strafe habe ich nachgeschaut und bin hingelaufen, sie war nur ein paar Meter vom Charlottenplatz entfernt.

 

Charlottenstraße hinauf Richtung Olgaeck, links ab. Schönes verwinkeltes Alt-Stuttgart, Bäume, Hänge und andere Sachen aus dem Naturkostladen. Man kann dort, falls man kein Indianerzelt im Park hat, nächtens beim Wirt am Berg einkehren. Der Wirt am Berg ist ein kleines Hotel mit einer mannshohen Menschenskulptur über der Tür, die Figur verschnörkelt und hügelig: elegant wie Stuttgart. 

Leute, die nie in der Gaisburgstraße waren sprechen von der "Stuttgarter Republik".

Es gibt blitzgescheite Leute, die nie in der Gaisburgstraße waren, aber aus eintausend Kilometer Entfernung die neue deutsche Hauptstadt entdeckt haben. Sie sprechen von der "Stuttgarter Republik". Dieser Begriff hat mit Abriss, Aufstand und Demokratie zu tun, wird aber nicht von allen Demokraten verstanden. In einer Fernsehshow des Berliner Comedy-Stars Mario Barth habe ich vor geraumer Zeit eine Nummer zum Nachdenken gesehen. Herr Barth, der berühmte Sohn eines in Stuttgart gescheiterten Kneipenwirts, erzählt dem Publikum mit allerlei Nebengeräuschen, wie ihn sein Vater als Pädagoge beeindruckt hat. Der Vater sagte: Solange du deine Füße unter meinen Tisch streckst, machst du, was ich dir sage.

Wie die meisten von Mario Barths Witzen ist auch dieser nicht lustig, er hat keine Pointe, er ist noch nicht einmal traurig. Trotzdem haben die Leute furchtbar gelacht. Das lag nicht an Mario Barths Nebengeräuschen, die oft vom Swing des Darms beeinflusst sind. Die Leute haben gelacht, weil sie sich in diesem Satz wiedererkannten. Wenn man sich in einer schlimmen Situation wiedererkennt, nachdem schon eine gewisse Zeit der Trauer vergangen ist, freut man sich und lacht.

Jeder kann das für sich ausprobieren. Angenommen, man sagt vor Publikum: Gestern habe ich mir Unterhosen gekauft, dann lachen die Menschen nur bedingt. Sagt man aber: Vor zehn Jahren habe ich mir Unterhosen bei Breuninger gekauft, dann lachen und freuen sich alle Leute, die ebenfalls vor zehn oder zwanzig Jahren Unterhosen bei Breuninger gekauft haben. In diesem Vorgang offenbart sich ein Geheimnis des Witzes: Eine Tragödie, in diesem Fall das Unterhosenkaufen, taugt erst dann zum Witz, wenn zwischen Tragödie und dem Blick auf die Tragödie eine angemessene Zeit vergangen ist. Vorsichtiger ausgedrückt: Heute darf man über Hitlers Unterhosen Witze machen, auch wenn er gar keine getragen hat.

Im tragödischen Tunnelbohrerverständnis erkennt sich keiner wieder.

Der in Baden-Württemberg beheimatete Tunnelbohrer Martin Herrenknecht hat neulich gesagt: Wenn die grün-rote Regierung von Baden-Württemberg das Projekt Stuttgart 21 scheitern lässt, werde ich mit meinem Unternehmen nach Bayern oder ins Ausland umziehen (eventuell also den Anschluss an Österreich suchen). Darüber hat selbstverständlich keiner gelacht, weil sich in diesem tragödischen Tunnelbohrerverständnis keiner wiedererkennt. Es fehlt der sogenannte Wiedererkennungswert, weil ja kein Mensch von Baden-Württemberg nach Bayern flieht.

Um Herrn Herrenknechts politischen Humor zu erkennen, muss man eine Vorstellung von Mario Barth besuchen. Herr Herrenknecht hat dem neuen grün-roten Ministerpräsidenten nämlich nichts anderes gesagt als Vater Barth seinem Sohn Barth: Solange du deine Füße unter meinen Tisch streckst, machst du gefälligst, was ich dir sage. Und wenn nicht, gehe ich mitsamt meinem gedeckten Tisch nach Bayern oder Österreich. Dann kannst du deine ungewaschenen Füße in die Luft strecken.

Der Fortschritt ist nicht zum Lachen.

Man könnte Herrn Herrenknecht erwidern: Macht nichts, unsere Füße fühlen sich an der Luft sowieso wohler als im Tunnel, und unsere Füße kennen sich aus, sie haben uns weit getragen. Aber diese Haltung wäre fortschrittsfeindlich. Der Fortschritt ist nicht zum Lachen, weil der Fortschrittstragödie zum Witz der Zeitfaktor, der Abstand, fehlt. Anders gesagt: Weil uns die Fortschrittstragödie erst bevorsteht, werden wir darüber erst lachen können, wenn unsere Zukunft längst vorbei ist. Dann aber wird unser Lachen keiner mehr hören.

Das mag kompliziert klingen für einen, der gestern noch nicht einmal gewusst hat, wo die Gaisburgstraße ist. Dies wiederum kommt davon, wenn man seine Füße den lieben langen Tag unter anderer Leute Tisch streckt. Guten Appetit.