Acht Kinder der Familie leben in Stuttgart, ein Sohn ist in der Türkei. Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Eine jesidische Großfamilie hat in Stuttgart Zuflucht gefunden – allerdings nicht komplett. Eines von neun Kindern musste im Flüchtlingslager zurückbleiben, weil der Junge volljährig ist. Die Deutsche Botschaft hatte sich für ihn eingesetzt.

Stuttgart - Awso Khalaf Hussein und seine Frau Amsha Simoqy sitzen mit acht ihrer Kinder im Wohnzimmer auf dem Sofa. Sie sind eng beisammen – und doch nicht komplett. Amer, der inzwischen 19-Jährige, ist zurückgeblieben im Flüchtlingslager in der Türkei, mitten im umkämpften kurdischen Kampfgebiet. „Es ist schwer“, sagt der Familienvater deprimiert. Er kann es kaum ertragen, seinen Sohn alleine zu wissen.

 

Das Handy des ältesten Sohnes Walid klingelt. Es ist Amer, aus dem Flüchtlingslager, der sich per WhatsApp meldet. „Wie geht es Dir?“, fragt Walid auf Deutsch, er lebt schon seit fünf Jahren in Stuttgart, kam im Oktober 2011 alleine als minderjähriger Flüchtling hier an. Amer antwortet ebenfalls auf Deutsch, er hat sich die Sprache mithilfe der Bücher beigebracht, die der große Bruder geschickt hat. Er habe Angst, sagt Amer. „Gestern ist eine Bombe explodiert, ganz in der Nähe, es war auch in den Medien“, sagt er. Immer mehr würden das Flüchtlingslager verlassen. Sonst seien immer 44 Zelte von Jesiden belegt gewesen, inzwischen stünden diese bis auf seines und drei weitere Zelte leer. „Alle anderen sind weg“, sagt Amer.

Das Geld hatte nicht für alle gereicht

Das Problem der Familie Khalaf: Vater Awso ist im August 2015 als Flüchtling anerkannt worden, da war Amer schon 18 Jahre alt. Wegen seiner Volljährigkeit hat die Stuttgarter Ausländerbehörde den Antrag in seinem Fall abgelehnt. Amer hat noch drei ältere Geschwister zwischen 20 und 24, doch die waren mithilfe von Schleppern nach Deutschland gekommen. Walid hatte den Weg als erster gemeistert, der Vater folgte dreieinhalb Jahre später mit den bereits volljährigen Manifa und Anwer. Für Amer habe das Geld nicht gereicht, erklärt er, außerdem sei er damals eben noch minderjährig gewesen. Die Familie hatte gehofft, über das Mittel der Familienzusammenführung alle übrigen in Sicherheit zu bringen. Doch die Bearbeitung des Asylantrags dauerte länger als sie gedacht hatten. Als Mutter Amsha am 29. April in Stuttgart am Flughafen ankam, hatte sie fünf statt sechs ihrer Kinder dabei: Sandrilla, 4, Afrah, 11, Turko, 13, und Inas, 15.

Walid Khalaf glaubt, dass sein Bruder Amer sich schnell integrieren würde, auch wegen seiner Deutschkenntnisse. Er selbst besucht ab September mit einem Stipendium ein Gymnasium. Sie hätten nicht im Irak bleiben können, erzählt der 20-Jährige. Das Haus sei vom IS zerstört worden, gerade rechtzeitig hätten sie noch fliehen können. Sie haben von Jesiden gehört, die zurückgelockt worden seien in ihre Dörfer – und dort ermordet wurden. Auch um Amer machen sie sich Sorgen, dass er wegen seines jesidischen Glaubens in Gefahr geraten könnte, unter Druck soll er schon gesetzt worden sein. Einen wichtigen Fürsprecher hat Amer: die Deutsche Botschaft in Ankara. In einem Schreiben, das auch an die Stuttgarter Ausländerbehörde ging, heißt es: „Es gibt nur noch wenige Jesiden, die in Flüchtlingslagern in den umkämpften Kurdengebieten in der Türkei leben. Der Sohn kann dort nicht allein zurückbleiben.“ Die Mitarbeiterin sieht Härtefallgründe gegeben, „so dass die Ausländerbehörde ihre Zustimmung erteilen könnte“, wie sie schreibt. Doch in Stuttgart sieht man das anders.

Fall liegt beim Regierungspräsidium Stuttgart

„Die gesetzlichen Voraussetzungen liegen nicht vor“, sagt Robert Ulshöfer, der stellvertretende Leiter der Ausländerbehörde. Das Ausländerrecht schütze nur die Kernfamilie: Eltern und ihre minderjährigen Kinder. Flüchtlinge seien hier sogar privilegiert gegenüber anderen Ausländern. Zwar gebe es Ausnahmen, wenn eine außergewöhnliche Härte vorliege. Aber dafür müsste sich die Situation des Sohnes von anderen vergleichbaren Flüchtlingen unterscheiden, wenn er zum Beispiel schwer krank wäre und dringender Pflege bedürfe, das Leben im Flüchtlingslager reiche nicht aus. Auch bei der Ausländerbehörde weiß man, dass die Deutsche Botschaft in diesem Fall die Härte gesehen hat. „Aus unserer Sicht ist der Fall eindeutig“, sagt Ulshöfer. Dennoch habe man wegen der unterschiedlichen Einschätzung den Fall dem Regierungspräsidium Stuttgart vorgelegt, auch wegen anderer zukünftiger Fälle. „Das Thema Familienzusammenführung wird uns weiter beschäftigen“, sagt Ulshöfer. Sollte das Visum vom RP abgelehnt werden, bliebe der Gerichtsweg. Die Familie hofft, dass ihnen das erspart bleibt. „Wenn ich könnte, würde ich mich für Amer eintauschen“, sagt sein Vater Awso Khalaf Hussein.