Alligatoren und Schusswaffen spielen in Clements Florida-Ballade eine Rolle. Foto: Hans Jörg Wangner

Jenifer Clement hat den Killer-&-Co.-Kritiker Hans Jörg Wangner schon einmal mit einem Buch überzeugt. Ob ihr neuer Roman „Gun love“ genauso gut bei ihm ankam?

Stuttgart - Armut, Perspektivlosigkeit, Gewalt: eine ganze Reihe amerikanischer Autoren setzen sich mit diesen Themen speziell aus der Sicht junger Frauen auseinander. Willy Vlautin mit „Northline“ etwa oder Larry Brown mit „Fay“. Nicht zu vergessen Ottessa Moshfegh mit „Eileen“. In diese Reihe passt auch die 1960 geborene Schriftstellerin Jenifer Clement, die vor ein paar Jahren mit ihren „Gebeten für die Vermissten“aufhorchen ließ. In ihrem neuen Roman „Gun Love“ erzählt sie die Geschichte eines jungen Mädchens, das in einem Trailerpark aufwächst – allerdings nicht etwa in einem Mobile home, sondern in einem Auto.

Die Mutter stammt aus gutem Hause

Seit 14 Jahren steht der Wagen, ein Mercury Topaz Automatik, bewegungslos auf dem Platz irgendwo im Hinterland von Florida. Zeit ihres Lebens hat Pearl, die weißhäutige, etwas klein gewachsene Heldin des Romans, nichts anderes gesehen. Ihre Mutter stammt aus gutem Hause, doch als sie mit 17 heimlich Mutter wurde, verließ sie ebenso heimlich ihr großbürgerliches Elternhaus – neben dem Baby nahm sie nur das Auto mit und ein paar recht wertvolle Familienerbstücke.

Aus dem ursprünglich geplanten Provisorium von höchstens ein paar Wochen werden Jahre, längst haben sich Tochter (sie wohnt auf dem Vordersitz) und Mutter (ihr Zimmer ist der Fond) mit den Gegebenheiten arrangiert. Pearl geht zur Schule – weil sie nirgendwo offiziell gemeldet ist, hat ihre Mutter eine Geburtsurkunde gefälscht –, pflegt außerhalb des Trailerparks aber kaum soziale Kontakte. So spielt sich das Leben zwischen ihr, ihrer Mutter und einer Handvoll Nachbarn ab: eine etwas ältere Freundin, ein Ehepaar, ein Prediger – sehr viel mehr Menschen wohnen nicht in der Umgebung.

Plötzliche Schießerei im Trailerpark

Jenifer Clement erzählt das mit einer klaren Sprache, in einem unaufgeregten, empathischen Tonfall. Sie erzählt, wie ihre Mutter einem Liebhaber verfällt, wie eines Tages ein Polizist sich für Pearls Herkunft interessiert – und wie unversehens ein junger Mann, den die beiden Frauen flüchtig kennen, in den Trailerpark zurück kommt und um sich schießt . . .

Der Kritiker (oder die Kritikerin) des „Guardian“ verglich „Gun love“ mit einer „lange verloren geglaubten Ballade von Johnny Cash oder Nick Cave“. Da ist sehr viel dran. Denn bei allem Realismus, bei allen detailscharfen Schilderungen stellt sich Jenifer Clement nicht die Frage, wie plausibel es ist, dass bürgerliche Werte und Konventionen in dem ärmlichen Biotop des Trailerparks überhaupt überstehen können. An der lang nachklingenden Wirkung des Romans ändert das freilich nichts – wie das so ist bei guten Balladen.

Jennifer Clement: Gun Love. Aus dem amerikanischen Englisch von Nicolai von Schweder-Schreiner. Suhrkamp, 251 Seiten, 22 Euro, auch als E-Book