Jean Christophe Maillot (rechts), Vladislav Lantratov Foto: Logvinov

In 1000 Kinos weltweit wird an diesem Sonntag Jean-Christophe Maillots Ballett „Der Widerspenstigen Zähmung“ live aus Moskau übertragen. Auch im Stuttgarter Ufa-Palast kann man dabei sein.

Herr Maillot, für das Moskauer Bolschoi-Ballett haben Sie Shakespeares „Der Widerspenstigen Zähmung“ auf die Bühne gebracht. Ein Tanzstoff, der sich heute nicht unbedingt aufdrängt, oder?
Für mich schon. Als Tänzer habe ich, da war ich 18 Jahre alt, in Hamburg Crankos „Zähmung“ kennengelernt – ich hatte den Gremio getanzt, eine tolle Rolle. Das ist lange her, und ich habe mich seither immer gefragt, warum dieses Stück so selten aufgegriffen wird. Es gibt Hunderte von „Schwanensee“-Versionen, jede Menge „Giselle“-Bearbeitungen, aber um Skakespeares „Widerspenstige“ kümmert sich keiner. Als das Bolschoi-Ballett wegen einer Uraufführung bei mir anfragte, habe ich natürlich sofort an diese Komödie gedacht.
Seit 1993, seit Sie das Ballett von Monte Carlo leiten, haben Sie nie für eine fremde Kompanie gearbeitet. Was hat Sie zum Umdenken bewogen?
Sergei Filin, der Leiter des Bolschoi-Balletts. Er kennt mich seit langem und hat mich überzeugt, dass meine Arbeit gut zu seinen Tänzern passen würde. So kam ich als erster nichtrussischer Choreograf nach Moskau, um ein großes, zeitgenössisches Handlungsballett zu gestalten. Als Assistentin wollte ich bei meiner ersten Choreografie für eine fremde Kompanie unbedingt Bernice Coppieters an meiner Seite haben. Sie war als Tänzerin in Monte Carlo so etwas wie meine Muse; die Rolle der Katharina hätte ich gerne für sie choreografiert, aber inzwischen hat sie ihre aktive Karriere beendet.
Shakespeares Komödie wird heute gern als frauenfeindlich bezeichnet. Wie gehen Sie damit um?
John Cranko hat 1969 Shakespeares Sicht humorvoll und satirisch, aber doch mit Respekt interpretiert. Heute ist die Vorstellung von einem Mann, der seine Frau regelrecht dressiert, nicht mehr zeitgemäß. Ich hatte seit langem Lust, das Stück aus dieser anekdotischen Macho-Ecke herauszuholen und es so zu denken, dass es nicht mehr von Dressur erzählt, sondern von der Begegnung zweier außergewöhnlicher Wesen.
Wie sieht das konkret aus?
Die bei Cranko komisch gestalteten Rollen bieten eigentlich eine tolle Möglichkeit, ein breites Spektrum von Liebesbeziehungen zu thematisieren. Zu den Paaren, die es neben Petruchio und Katharina am Ende gibt, habe ich deshalb noch eines dazuerfunden: Damit auch Gremio eine Partnerin hat, gibt es in meinem Ballett eine Gouvernante. Ich wollte dem Stück eine menschlichere Dimension, mehr Fleisch und Blut, mehr erotische Spannung geben und, verglichen mit Crankos Zugang, eine weniger komische Haltung einnehmen.
Ist Ihr Ballett noch eine Komödie?
Eigentlich nicht. Es gibt komische Situationen, auch Humor und viel Ironie, aber es ist kein komisches Ballett. Ich erinnere mich, dass Crankos „Zähmung“ damals das Publikum in Hamburg vor Lachen fast zum Explodieren brachte. Bei mir kann man höchstens lächeln, sich über bestimmte Szenen amüsieren. Am Ende gibt es natürlich die für Shakespeare typische Leichtigkeit, die zeigt, dass das Leben mit einem Lächeln etwas einfacher ist.
Komik gilt als eine eher schwierige Kunst . . .
Das stimmt. Ich bin überzeugt davon, dass es sehr viel leichter ist, ein tragisches Ballett zu machen und die Menschen zu berühren. Starke Gefühle, eine düstere Geschichte sprechen das Publikum unmittelbarer an als komische Situationen. Wenn man große Choreografen wie Jirí Kylián oder Jerome Robbins nimmt, dann sieht man, dass zum Gelingen von Komik eine gewisse Reife gehört. Das Alter bringt eine Schwere ins Spiel – und die Notwendigkeit, die Dinge mit mehr Ironie zu sehen. Es braucht viel Lebenserfahrung, um daraus dann Kunst zu gestalten, die nicht grotesk ist, sondern komisch. Es ist schwierig, die Menschen zum Lachen zu bringen, aber ich versuche es trotzdem immer wieder.
Komik ist sicher auch von kulturellen Faktoren abhängig . . .
Ja, das Komische hat unterschiedliche Wirkung. Die Russen haben sich in „Der Widerspenstigen Zähmung“ aber gut unterhalten, und bis heute läuft das Stück, das seit der Premiere im Juli 2014 schon mehr als 50 Mal gespielt wurde, mit enormem Erfolg. Was vielleicht auch daran liegt, dass das Bolschoi-Publikum seine Tänzer darin einmal ganz anders erleben kann – nicht in klassischen Rollen, sondern auf eine Art entblößt: Vladislav Lantratov ist Petruchio, aber vor allem er selbst; dasselbe gilt für Ekaterina Krysanova – so wie auch in Crankos Katharina viel von Marcia Haydée steckt.
Wie viel Cranko steckt in Ihrer Choreografie?
Es gibt tatsächlich eine kleine Verbeugung. Für ihn habe ich eine Szene für Petruchio eingebaut: Darin macht er Katharina über eine höchst ausführliche Pantomime glauben, dass er ein Feuer entfacht, um Tee für sie zu kochen. Das ist meine Hommage an Crankos geniale Szene mit den drei Dienern.
In Stuttgart wird zu Musik getanzt, die Kurt-Heinz Stolze nach Scarlatti komponierte. Ihre Wahl fiel auf Schostakowitsch. Warum?
Ich habe noch nie mit Tänzern gearbeitet, die ich nicht kenne; dabei schätze ich es sehr, so direkt wie möglich mit Menschen in Kontakt zu sein. Beim Bolschoi-Ballett tanzen nur Russen, keiner spricht Englisch. Zwischen ihnen und mir war also immer der Filter der Dolmetscher. Da war es mir wichtig, dass ich einen unmittelbaren Berührungspunkt zu ihrer Kultur schaffe, eine Musik, in der sie sich wohlfühlen. Viele haben so Facetten Schostakowitschs entdeckt, die sie noch nicht kannten, seine Filmmusik etwa.
An diesem Sonntag wird „Der Widerspenstigen Zähmung“ live aus Moskau in viele Kinos weltweit übetragen. Verliert Tanz auf der Leinwand an Lebendigkeit?
Ich hoffe nicht, weil ich meine Choreografien eigentlich immer nach filmischen Kriterien gestalte, ich bin ein echter Kinofan. Mich interessiert der Tänzer in der Dimension eines Schauspielers und der Tanz als Beziehung zwischen Menschen. Die große Chance, die eine große Leinwand bietet, ist, ganz nah an den Tänzern zu sein und zu sehen, welch grandiose Schauspieler da am Werk sind. Auch die Version Crankos würde sich gut fürs Kino eignen, seine „Zähmung“ hat ebenfalls einen sehr dynamischen, kinematografischen Zugriff.
Noch eine Verbindung nach Stuttgart: Ihre Kompanie arbeitet viel mit Marco Goecke zusammen. Wie haben Sie das Werk des Stuttgarter Haus-Choreografen kennengelernt?
Ihr Kollege Hartmut Regitz hat mich auf ihn aufmerksam gemacht. Dann wurde Marco Goecke 2006 mit dem Nijinsky-Preis in Monte Carlo ausgezeichnet, und ich habe eine beeindruckende Persönlichkeit und einen faszinierenden Künstler kennengelernt. Seine Ballette tragen eine individuelle, klar identifizierbare Handschrift, das ist heute selten. Mit seiner Neubearbeitung von „Le spectre de la rose“ ist ihm in Monte Carlo ein echtes Meisterwerk gelungen.