Widmet sich im Theaterhaus aus Jazz-Richtung dem Pink Floyd-Album „Dark Side Of The Moon“: Nguyen Lê Foto: Veranstalter

An diesem Donnerstag beginnt der Oster-Jazz im Theaterhaus mit viel Musik, Ballett, Lyrik und Theater. Dass der Jazz in einer Krise steckt, bestärkt die Festival-Macher eher: „Die weiße Fahne zu hissen, kommt für uns nicht in Frage“, sagt Theaterhaus-Chef Werner Schretzmeier im Gespräch.

Stuttgart – Herr Schretzmeier, Herr Marmulla, wo steht der Jazz im Jahr 2015?
Schretzmeier: Er wird als Kunstform verdrängt, das weckt bei uns einen Beschützer-Instinkt. Deshalb suchen wir Verbindungen mit Tanz und Lyrik. Das war früher Standard. Günther Grass oder Peter Rühmkorf hatten immer Musiker dabei, das Publikum hat das geschätzt.
Was hat sich verändert?
Schretzmeier: In den 1970ern war alles, was schräg war, gerade richtig, da hat man das geradezu erfinden müssen. Heute wählen selbst kulturaffine Leute mit höherer Sensibilität gezielt aus – was ich nicht vorher richtig weiß oder einordnen kann: Nein! Es wird schwieriger, nicht nur beim Jazz. Die weiße Fahne zu hissen kommt für uns aber überhaupt nicht infrage. Zum Glück haben wir Sponsoren, die den Wert von Kultur erkennen.
Woher kommt der Zuschauerschwund?
Marmulla: Je offener, sicherer und perspektivreicher das Leben ist, desto risikofreudiger sind die Menschen. Derzeit herrscht eher ein Gefühl der Verunsicherung vor, daraus resultiert eine Angst vor Irritation.
Schretzmeier: Ich würde die These wagen, dass gerade auch der extreme Überfluss, in dem wir leben, die Leute nicht dazu animiert, etwas zu riskieren. Das ist ein fast paradoxes Verhältnis. Intellektuelle aus anderen Ländern sagen alle: Ich verstehe die Deutschen nicht, die haben alles, sie können sorglos existieren wie wenige sonst auf der Welt. Und trotzdem ist da eine merkwürdige Rückversicherungsmentalität entstanden.
Wie schlimm ist es denn um den Jazz bestellt?
Marmulla: In den USA ist der Jazz 2014 bei den Verkäufen erstmals von der Klassik überholt worden und nun ganz unten. Jazz ist die neue Klassik, hat Kunststaatssekretär Jürgen Walter schon festgestellt. Wir bräuchten neue Subventionsverhältnisse.
Wie bei der Neuen Musik, die komplett subventioniert praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet?
Marmulla: Die Musiker müssen natürlich ihren Teil beitragen, nicht nur für die Eingeweihten spielen, sondern auch fürs Publikum. Sonst ist das wie ein Insider-Witz, den kaum jemand versteht. Jazz muss ein Erlebnis sein, wie es bei Esbjörn Svensson der Fall war, bei Herbie Hancock zu „Rockit“-Zeiten oder bei Branford Marsalis – eine Koketterie mit dem Pop, wie Diana Krall sie jetzt versucht.
Fehlt der Zugang?
Marmulla: Wir haben ja Sachen fürs Publikum, Blues und Soul, Lisa Simone und Pete York, da gibt es schon Andockmöglichkeiten für Pop-Hörer. Ein Duo wie Schaerer/Niggli ist natürlich eine Herausforderung, aber da ist immer die Frage: Lasse ich mich darauf ein? Öffne ich mich für andere Sphären? Das ist ja eine Einladung zu einer Reise.
Immer mehr Leuten scheint es zu genügen, Kultur im Netz anzuschauen, wo praktisch alles gratis verfügbar ist . . .
Marmulla: Da ist der Jazz im Vorteil, denn es geht nicht um perfekte Reproduktion wie im Pop, sondern um permanente Veränderung.
Sie laden immer junge Musiker zum Festival ein – bringen die junges Publikum mit?
Marmulla: Nicht automatisch. Vielen hervorragend ausgebildeten jungen Musikern steht wenig junges Publikum gegenüber. Die Nagelprobe wird für mich „Borke Beckett Boom“. Tobias Borke ist ein hervorragender Beatboxer und Freestyle-Rapper, er hat ein Rap-Tagebuch verfasst analog zu Samuel Becketts „Krapp‘s Last Tape“ und improvisiert zu seiner eigenen Aufnahme. Das hat eine enorme Heutigkeit, er hat Bezug zur Basis und Glaubwürdigkeit.
Schretzmeier: Natürlich kommen eher junge Menschen, wenn junge Künstler auftreten, etwa die Gebrüder Mehl mit den Ballett-Tänzern um Elisa Badenes. Da hoffe ich aber auch, dass Leute kommen, die eine Affinität zum Tanz haben und darüber vielleicht den Jazz entdecken. An dem Abend, an dem Ack van Rooyen und Herbert Joos spielen, wird sicher ein Publikum über 50 da sein, demgegenüber sich aber niemand Arroganz leisten kann: Wenn das sogenannte ältere Publikum beschließen würde, nicht mehr zu Kunst und Kultur zu gehen, wären die Theater leer, und man könnte sofort Supermärkte daraus machen.
Junge Musiker einzuladen ist ja nicht ganz uneigennützig – das können schließlich die großen Namen von morgen sein . . .
Schretzmeier: Viele haben bei uns angefangen, Patrick Bebelaar zum Beispiel oder die Hübner-Brüder Gregor und Veit. Ich finde, das gehört sich einfach, den Nachwuchs vor Ort zu fördern. Bei vielen Festivals verkommt das heute zum Alibi, um an öffentliches Geld zu kommen. Das darf aus meiner Sicht nicht der Grund sein.
Herbert Joos feiert den 75., Ack van Rooyen den 85. – sehen Sie Nachfolger?
Schretzmeier: Das wird spannend, wer in diese Fußstapfen treten kann. Ein Till Brönner jedenfalls nicht, wenn ich ihn mit experimentierfreudigen Künstlern vergleiche wie Albert Mangelsdorff oder Manfred Schoof.
Wie gelingt es Ihnen, stimmige Festival-Abende zu strukturieren, etwa mit experimentellen Duos oder mit jungen Frauen?
Schretzmeier: Die Worte, die wir beide wechseln, um so ein Festival zu planen, passen auf eine DIN-A4-Seite. Je mehr Worte man braucht, desto schwieriger wird es, und so sieht dann ein Programm unter Umständen auch aus. Nämlich überhaupt nicht sinnlich, sondern orientiert an Hitlisten. Wenn bei uns der eine einen Gedanken aufwirft, überlegt der andere schon, was dazu passen könnte, dass es ein Paket wird. Wir sammeln übers Jahr Namen. Wolfgang stöbert dann in seinem Schuber, und wenn er sagt: Den Schaerer müssen wir jetzt machen, dann hat er sich so damit beschäftigt, dass das auch stimmt. Ich bin ja eher ein Bastler, ich schreibe 800 Namen auf Zettel und pinne sie an die Wand.
Marmulla: Manche Künstler muss man sich vorher live anschauen. Andreas Schaerer zum Beispiel ist live noch mal eine ganz andere Nummer als auf Platte. Und die Frauen sind up to date, die können sich präsentieren, die wissen genau, wie Pop funktioniert. Sie müssen sich auch durchsetzen im doch sehr männerlastigen Jazz.
Was über die Musik hinaus ist Ihnen wichtig, wenn Sie Künstler buchen?
Schretzmeier: Wir mögen Leute, die nicht nur dann dabei sind, wenn sie selbst spielen, die gerne Kollegen treffen, sich austauschen. Alexandra Lehmler habe ich 2014 kennengelernt, da war sie Landesjazzpreisträgerin. Sie hat sich viel angeschaut beim Festival. Nguyen Lê ist auch einer, der sich immer mal wieder meldet, da weiß man: Der kommt nicht nur, macht seinen Gig und ist wieder weg.
Marmulla: Er ist ein Suchender, der sich immer fragt: Wo kann ich jetzt noch hingehen? Wie er jetzt das „Money“-Ding macht, inspiriert von Pink Floyds „Dark Side Of The Moon“, er erweitert das wirklich fantastisch. Und Wolfgang Haffner hat eine tolle Band extra fürs Festival zusammengestellt. Das kostet etwas mehr, ist dafür aber auch etwas ganz Besonderes.