Ein Jazz-Virtuose mit dem Gestus eines Rockstars: Stanley Clarke am Samstagabend im Innenhof des Alten Schlosses Foto: Opus/Reiner Pfisterer

Zwei der ganz großen Jazz-Bassisten, Stanley Clarke und Christian McBride, haben am Jazz-Open-Auftaktwochenende furiose Konzerte in Stuttgart gegeben – und dabei sehr unterschiedliche Philosophien offenbart.

Stuttgart - Es ist ein Generationenkonflikt der besonderen Art: Stanley Clarke (67), der ältere, arbeitet an der Zukunft des Jazz, seit ihn der Pianist Chic Corea 1972 in die Band Return to Forever einlud, ein Aushängeschild der Fusion-Revolution; McBride (46) dagegen, der jüngere, beweist als Bandleader und gefragter Sideman, dass der Modern Jazz mitnichten ausgebrannt ist, sondern immer aufs Neue sehr gegenwärtig erblüht, wenn Musiker ihm seine Ur-Energie zurückgeben.

So jedenfalls stellt sich das am Freitag bei den Jazz Open in der Spardawelt dar: Das Publikum macht mit Christian McBride eine Erfahrung wie die Figuren in Jack Kerouacs Roman „On The Road“, während sie auf rastloser Selbstsuche quer durch die USA kurze Erlösung in heißen Bebop-Kellern finden.

Man fürchtet, das Schlagzeug würde Feuer fangen

Wie ein federndes Uhrwerk ruht Christian McBride inmitten seiner Band, spinnt mit flinken Fingern immer neue, glühend swingende Klangmuster von bestechender Klarheit, streicht einfühlsam, parodiert subtil quer durch die Stile und bringt Bach zum walken. Genauso handhabt es Justin Faulkner, sein Bruder im Geiste am Schlagzeug, der sonst in der Band von Branford Marsalis die Jazz-Tradition pflegt: Er wirbelt derart furios über Trommeln und Becken, dass Bewegungsunschärfen entstehen und man erwartet, das Drumkit müsste im nächsten Moment Funken sprühen und Feuer fangen.

Darüber thront ein zweiköpfiger Bläsersatz wie mit der Rasierklinge gezogen. Beim Solo lodert die Trompete, Josh Evans lässt sie schreien und stöhnen, während Marcus Strickland am Saxofon für lyrische Traumsequenzen sorgt, Töne auch mal verschnaufen lässt auf dieser wilden Jagd. Ganz eng ineinander verwoben ist dieses Ensemble, das weder Noten noch Stücke wirklich braucht, sondern intuitiv interagiert. Das Publikum tobt. Mehr Energie geht nicht. Denkt man.

Stanley Clarke beginnt als Slap-Monster

„Christian McBride’s New Jawn“ heißt die Band, das bedeute so viel wie „neues Ding“, sagt der Bassist, „in Philly-Slang“. McBride nämlich ist in Philadelphia geboren, genau wie Justin Faulkner – und wie Stanley Clarke. Die Ostküstenstadt ist musikalisch bislang vor allem Ende der 60er als Geburtsstätte des üppigen Philadelphia Soul aufgefallen – womöglich wurde sie als Metropole rhythmischer Tieftonerzeugung bislang übersehen.

Clarke beginnt am Samstag im Alten Schloss als Slap-Monster am E-Bass, ehe er in das Hendrix-artige Riff von „Wild Dog“ übergeht – und den Lead-Gitarrenpart gleich selbst übernimmt. Direkt danach, in „Brazilian Love Affair“, entfaltet er am Kontrabass nicht minder große Wucht und spielt federleicht ein forderndes Flamenco-Solo. Clarke wirkt alterslos, wie aufgezogen und inszeniert sich mit dem Gestus eines Rockstars.

Oft geht die Band in Zwiegespräche

Seine Band besteht aus jungen Supertalenten und ist ungewöhnlich besetzt, zwei Tastenspieler, zwei Perkussionisten, alle berstend vor Motivation: Der Pianist Beka Gochiashvili (24) lässt die Finger fliegen, als gäbe es kein Morgen, Cameron Graves, eine zentrale Figur aus dem kalifornischen Kamasi-Washington-Kollektiv, sorgt an den Keyboards nicht nur für Flöten und Moog-Sounds, sondern auch für flirrende Synthesizer-Soli, der Afghane Sala Nader bringt die gute alte Perkussion zu neuem Leuchten, und der Drummer Shariq Tucker (22) entfaltet eine technische Versiertheit und urgewaltige Rasanz, angesichts derer mancher Metal-Drummer bleich werden dürfte.

Oft geht die Band in Zwiegespräche, mal treten Drums und Keyboards in Dialog, mal treffen sich Clarke und Nader auf ein rhythmusgeprägtes tête-à-tête. Überhaupt ein Afghane: Was für ein Signal in einer Zeit, in der kulturlose Egomanen am Weltgefüge zündeln und von Mauern träumen.

Das Publikum tobt

Und natürlich taucht Stanley Clarke auch tief ein in die 1970er Jahre, um zu erforschen, ob sich au dem futuristischen Material von einst der Klang einer neuen Zukunft formen ließe. „No Mystery“ (1975), eine Chick Corea-Komposition, ergießt sich als orchestraler Fusion-Strom in den Innenhof des Alten Schlosses, dessen Gewölbe nun stimmungsvoll illuminiert sind. Spielend gleitet die Band durch die vertrackte, verschachtelte Komposition, um mit „Mothership Connection“ wieder mit Verve aus der Zukunft zurückzukehren, einem Stück des Funk-Papstes George Clinton. Das Publikum tobt. Mehr Energie geht nicht. Hätte man gedacht.

Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass auch eine Frau am Bass zu hören war an diesem Wochenende: Im Vorprogramm von McBride spielte Michelle Johnson, die sich mit 17 den Künstlernamen Ndegeocello aussuchte, der auf Suaheli „frei wie ein Vogel“ bedeutet. Genau so ist ihr wundersamer Singer-Songwriter-Pop, eigenwillig und präzise auf den Punkt arrangiert gegen die Engstirnigkeit der Kleingeister – und angetrieben von hypnotischen Bassfiguren.

Auch die Großmeister haben frei und mutig agiert. Wer also hat die Nase vorn? McBride hat sein Herz in den Clubs verloren, Clarke im großen Rampenlicht. McBride hat die heißeste Jazz-Combo seit langem aufgeboten, Clarke die zukunftsträchtigste. Virtuosen sind sie beide. Das Ergebnis kann also nur lauten: klares Unentschieden.