Jasmila Žbanić präsentiert am Lido ihren Spielfilm „Quo vadis, Aida?“ Foto: AFP/Tiziana Fabi

Als erste deutsche Koproduktion geht „Quo Vadis, Aida?“ ins diesjährige venezianische Löwenrennen. Ein Interview mit der in Berlin lebenden Regisseurin Jasmila Žbanić über das Massaker in Srebrenica.

Venedig/Berlin - Mit ihrem Drama „Esmas Geheimnis“ thematisierte Regisseurin Jasmila Žbanić den sexuellen Missbrauch während des Bosnienkrieges - und gewann 2006 dafür den Goldenen Bären bei der Berlinale. Nun hat die in Berlin lebende Filmemacherin es in den Wettbewerb von Venedig geschafft. In „Quo Vadis, Aida?“ geht es um das Massaker in Srebrenica. Ein Interview anlässlich der Filmpremiere am Donnerstagabend auf dem Lido.

Was hat Sie dazu bewegt, diesen Film jetzt zu drehen, 25 Jahre nach den Massakern in Srebrenica?

Persönlich ist Srebrenica mir sehr nahe, weil ich den Krieg in Sarajevo von 1992 bis 1995 überlebt habe, einer Stadt, die ebenfalls belagert wurde, und wir hätten genauso enden können wie Srebrenica. Ich habe viel gelesen und vielen Frauen und ihren Geschichten zugehört über ihre Söhne, Ehemänner, Brüder und Väter, die von den Vereinten Nationen verlassen und von der Armee der bosnischen Serben gefangen genommen wurden. Diese Geschichten, die jeden Tag in den Medien erschienen, haben mich emotional sehr beeinflusst. Tatsache ist, dass auch heute noch, nach 25 Jahren, 1700 Menschen vermisst werden.

Das Drama von Srebrenica ist also hochaktuell?

Die Geschichte von Srebrenica ist ein Drama, das mich als Filmemacherin völlig verzehrt hat. Die systematische Hinrichtung von über 8000 Einwohnern der ostbosnischen Stadt Srebrenica bis zum Ende des Bosnienkrieges ist ein großes Trauma für die Menschen in Bosnien. Während des Krieges wurde es zur UN-Sicherheitszone für Zivilisten erklärt und die Menschen erwarteten, dass sie dort sicher sind. Als jedoch im Juli 1995 bosnisch-serbische Truppen die Stadt überrannten, baten die unterlegenen UN-Truppen die UNO in New York um Hilfe, wurden jedoch genauso wie die Bevölkerung enttäuscht. Srebrenica ist einen 40-minütigen Flug von Wien oder weniger als zwei Stunden von Berlin entfernt, und es ist beängstigend, dass ein solcher Völkermord direkt vor europäischen Augen stattgefunden hat - nachdem wir alle millionenfach wiederholt haben „Nie wieder“.

Aida muss übersetzen, was die Männer um sie herum sagen. Warum haben Sie sich zu dieser Perspektive einer Frau entschieden?

Aida ist eine Figur, die sich zwischen zwei Welten befindet: Sie ist Bosnierin, ihre Familie befindet sich in der gleichen Situation wie 30 000 andere Einwohner von Srebrenica, aber gleichzeitig arbeitet sie für die Vereinten Nationen, und das macht ihre Position mehrdeutig. Sie glaubt an die UNO. Sie glaubt, dass die UN-Basis ein sicherer Ort für ihre Familie ist und sie glaubt, dass sie bestimmte Privilegien hat, weil sie für die UNO arbeitet. Der Film ist ihre Reise in einer Zeit, in der alles auseinanderfällt. Frauen haben den Krieg in einem so geringen Prozentsatz geplant, organisiert oder durchgeführt, dass wir leicht sagen können, dass ein Krieg ein rein männliches Spiel ist und Filme über den Krieg meistens von einem Mann gemacht werden. In unserem Film zeigen wir einen Krieg aus weiblicher Perspektive, weil wir genug Filme über den Krieg aus männlicher Perspektive haben.

Sie zeigen die UNO und ihre Soldaten als sehr hilflos und unentschlossen. Glauben Sie, das Massaker hätte vermieden werden können, wenn die UNO mehr eingegriffen hätte?

Wenn niederländische Soldaten mehr Empathie gehabt hätten, hätte diese Tragödie meines Erachtens nicht so schreckliche Folgen gehabt. Selbst wenn die Institutionen und Regierungen uns im Stich lassen, haben wir immer noch die Freiheit, für andere zu fühlen und anderen zu helfen. Wie viele Dinge wären anders gewesen, wenn wir mehr Solidarität gehabt hätten? Die niederländische UNO hatte viele Vorurteile gegenüber bosnischen Muslimen und viele koloniale Ansichten über Menschen im Allgemeinen. Aber wissen Sie, was für mich noch beängstigender ist, ist, dass wenn Srebrenica jetzt, im Jahr 2020, stattfinden würde, es das gleiche Ergebnis hätte! Niemand würde einen Finger rühren!

Mit Ihrem Film „Esmas Geheimnis“ über sexuellen Missbrauch während des Bosnienkrieges haben Sie bei der Berlinale 2006 den Goldenen Bären gewonnen. Wie wichtig war diese Auszeichnung für Ihre weitere Arbeit?

Der Goldene Bär war sehr wichtig für meine Arbeit und für weibliche Opfer in Bosnien. Es ist uns gelungen, das bosnische Gesetz so zu ändern, dass vergewaltigte Frauen als Kriegsopfer anerkannt wurden. Es war wichtig und ohne die Kraft dieser Auszeichnung bin ich mir nicht sicher, ob wir es geschafft hätten.

Welche Bedeutung haben große Filmfestivals wie nun auch in Venedig, gerade in Zeiten wie diesen?

Ich mache Filme, damit so viele Leute wie möglich sie sehen. Venedig, Berlinale, Cannes widmen Medien, Fachleuten und Publikum den von ihnen ausgewählten Filmen große Aufmerksamkeit. Dieses Jahr umso mehr, als Venedig das erste Festival seit Beginn der Pandemie ist. Alle sind so aufgeregt und glücklich, dass die Festivals wieder beginnen und wir uns wieder in der Liebe zum Kino vereinen.

Zur Person

Jasmila Žbanić (45) wurde 1974 in Sarajevo geboren. Gleich mit ihrem Spielfilmdebüt feierte sie große Erfolge: „Esmas Geheimnis“ wurde 2006 mit dem Goldenen Bären der Berlinale ausgezeichnet. Mit „Zwischen uns das Paradies“ war sie 2010 erneut im Wettbewerb der Berlinale, für den sie später beim Filmfest München den Friedenspreis des Deutschen Films – Die Brücke erhielt. Sie lebt in Berlin, verbringt eigenen Angaben zufolge aber auch viel Zeit in Bosnien.