Illustration von Jerzy Srokowski zu Korczaks „König Hänschen“ Foto: Verlag

In seinem Kinderbuch „König Hänschen“ zeichnet der im deutschen Vernichtungslager Treblinka ermordete Janusz Korczak ein tief berührendes Bild des Alleinseins und der tiefen Abgründe zwischen Kindern und Erwachsenen. Es ist Zeit, sich an Korczaks Botschaften zu erinnern.

Janusz Korczak, polnischer Arzt, Pädagoge und Schriftsteller, forderte in seiner 1914 bis 1916 verfassten Studie „Wie man ein Kind lieben soll“ die Magna Charta Libertatis als ein Grundgesetz für das Kind. Korczaks zentrale Forderung: das Recht des Kindes darauf, so zu sein, wie es ist. Seine Pädagogik der Achtung vor dem Kind ist brandaktuell, wenn er schreibt: „Entsagen wir der trügerischen Sehnsucht nach vollkommenen Kindern.“ Ein frühes Plädoyer für die Individualität.

Geboren wird der Arzt, Pädagoge und Schriftsteller 1878 oder 1879 als Henryk Goldszmit in Warschau. Schon als Gymnasiast thematisiert er in ersten Veröffentlichungen Erziehungsfragen. Während des Medizinstudiums (in dieser Zeit nimmt er das Pseudonym Janusz Korczak an) betreut er freiwillig Kinder im Warschauer Armenviertel. 1905 muss er sie verlassen und der Einberufung in den Russisch-Japanischen Krieg folgen. Wieder zurück, arbeitet er in einem Kinderkrankenhaus. Um seine Hilfstätigkeiten finanzieren zu können, praktiziert er als freier Arzt für vermögende Warschauer. Studien führen ihn nach Berlin, Paris, London.

„Das Kind lehrt und erzieht“

In London steht für den 33-Jährigen fest: Eine eigene Familie gründen wird er nicht. Später schreibt er: „An Sohnes statt nahm ich die Idee, dem Kinde zu dienen.“ Schon damals war er überzeugt: „Das Kind lehrt und erzieht. Für den Erzieher ist das Kind das Buch der Natur; indem er es liest, reift er. Man darf das Kind nicht gering schätzen. Es weiß mehr über sich selbst als ich über das Kind . . .“

Korczak forciert das Schreiben. Die Titel seiner Bücher entlehnt er dem Jiddischen – etwa „Die Mojscheles, die Joscheles und Sruleks“. Ein anderes Buch titelt mit polnischen Namen „Die Jozeks, die Janeks und Franeks“. Nach seinen Plänen wird von 1912 bis 1914 das jüdische Kinderheim Dom Sierot (Haus der Waisen) gebaut.

1912 lebten in Warschau 822 000 Einwohner; 500 000 waren Polen, die übrigen Minderheiten. 15 Prozent waren Jiddisch sprechende, meist orthodoxe Juden. Auch Janusz Korczak war in eine orthodoxe Familie geboren worden. In seinem Standardwerk „Wie man ein Kind lieben soll“ äußert sich Korczak zum Leben des Kindes in der Familie, im Internat, in Sommerkolonien (heute Freizeiten genannt), im Waisenhaus.

„Das Kind wird nicht erst Mensch, es ist schon einer“

Entgegen gängiger Vorstellung, das Kind sei ein „leeres Gefäß“, in das man nur genügend hineinschütten müsse, damit es ein „ordentliches“ Mitglied der Gesellschaft würde, ist Korczak überzeugt: „Das Kind wird nicht erst ein Mensch, es ist schon einer.“

Wie aus seiner Sicht eine liberale Gesellschaft aussehen müsste, ist exemplarisch in seinen Kinderromanen „König Hänschen I.“ und „König Hänschen auf der einsamen Insel“ zu lesen. In „König Hänschen I.“ erbt der Held als Kind die Krone. Sein Land wird von anderen Königen überfallen. Als unbekannter Kindersoldat kämpft Hänschen mit – eine grausame Erfahrung für ihn.

Nach dem Sieg will er für eine bessere Welt sorgen. „Die Erwachsenen gehen nicht zur Schule, daher wissen sie auch nicht, wie ungerecht es da zugeht“, sagt sein Kinderminister im Kinderparlament. Weil König Hänschen I. schlechte Erfahrungen mit erwachsenen Politikern gemacht hat, führt er Reformen mit den Kindern durch. „Sie haben vergessen“, ruft er seinen Ministern zu, „dass das Volk nicht nur aus Erwachsenen besteht.“

1959 wurde die „Charta des Kindes“ von der UN verabschiedet

Wie ein Flächenbrand greifen die Reformen auf andere Länder über. Es kommt zur Umkehr der Verhältnisse: Kinder üben Berufe der Erwachsenen aus (schlecht), Erwachsene gehen in die Schule (noch schlechter). Am Ende gibt es wieder Krieg. Hänschen, gerade dem Schafott entkommen, muss in die Verbannung. Diese Geschichte ist 1923 geschrieben worden und steckt voller Parallelen zur Gegenwart.

1959 wurde die „Charta des Kindes“ durch die UN-Generalversammlung in New York verabschiedet. Doch Korczaks Forderung, statt Zwang und Willkür den Weg der Vereinbarung, der Verständigung zwischen Erwachsenem und Kind zu gehen, ist global nicht eingelöst.

1972 wurde Janusz Korczak für sein Gesamtwerk mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet – 30 Jahre nach seinem Tod. Korczaks Spur verliert sich am 5. August 1942 im Vernichtungslager Treblinka. 1940 war das Dom Sierot in das Warschauer Ghetto verlegt worden. Zwei Jahre später wurden 200 Kinder, einige Mitarbeiter und auch Korczak deportiert. Ihm persönlich geltende Rettungsversuche lehnte er konsequent ab.

Von der Banalität des Bösen

In seinen Tagebuchnotizen schreibt Janusz Korczak, einen deutschen Soldaten beobachtend: „Ich begieße die Blumen. Meine Glatze am Fenster – ein gutes Ziel. Er hat einen Karabiner. Warum steht er da und betrachtet mich so friedlich? Er hat keinen Befehl. Vielleicht war er im bürgerlichen Leben Dorfschullehrer, vielleicht Notar, Straßenkehrer in Leipzig oder Kellner in Köln?“

Man darf Korczaks Gedanken als Teil jener „Banalität des Bösen“ skizzieren, die Hanna Arendt 1961 während des Prozesses gegen Adolf Eichmann, Organisator des industriellen Menschenmordes in deutschem Namen, in Jerusalem skizzierte.