Sonja Thielen vor der Moossammlung im Naturkundemuseum, links ein Blick per Elektronenmikroskop auf Zackenmützenmoos aus der Mooswand. Die Pfeile weisen auf Feinstaubpartikel. Foto: Lg/A. Zweygarth, SMNS/Sonja Thielen, Cristina Gascó Martín

Das Jahr 2017 ist rum. Viel ist passiert. Schönes, Kurioses, Schreckliches. Aber was davon bleibt? In der Serie 12 aus 2017 blicken wir zurück – und voraus. Heute: Sonja Thielen, die erforscht, wie gut Moose gegen Feinstaub wirken.

Stuttgart - Sie sind wunderbar weich und erinnern an Wald, sie changieren von Grün bis Braun, sie sind Überlebenskünstler. Und sie avancierten, seitdem sie im Februar an eine senkrechten Wand entlang der Bundesstraße 14 getackert wurden, zum Aufreger des Jahres: Moose.

Braucht man das noch, oder kann das weg? Eine solche Frage, die manchem Autofahrer auf der Cannstatter Straße beim Blick auf die eingedunkelte Fläche in den Sinn kommen könnte, hat Sonja Thielen noch nicht gehört. „Viele Leute in meiner Umgebung sind eher neugierig und fragen nach der Mooswand“, sagt die junge Wissenschaftlerin, die sich im staatlichen Naturkundemuseum am Rosensteinpark über Mikroskope beugt, um dem entscheidenden Sachverhalt auf den Grund zu gehen: Können Moose helfen, das Feinstaubproblem in der Stadt zu lösen, können sie Feinstaub abbauen?

Es geht um ein Forschungsprojekt

Dazu dient die Pilotstudie Mooswand, die die 26-jährige Biologin nach dem Studium an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg und einem Auslandsaufenthalt an der University of Iceland in Reykjavík nach Stuttgart gebracht hat. Im Metallregal ihres Büros stehen offensichtlich benutzte Gummistiefel. „Ich wollte schon immer auch was draußen machen“, lacht Thielen, die eine gewisse Vorbelastung durch einen Onkel und eine Großmutter erkennt, die als Förster und Apothekerin arbeiten.

Dass die Stuttgarter Mooswand bundesweit durch die Gazetten gereicht und in Verbindung mit dem finanziellen Aufwand von mehr als 500 000 Euro die Sinnfrage gestellt wird, bringt die Wissenschaftlerin nicht aus dem Konzept. „Wenn man vor der Wand steht, denkt man schon mal ‚o Gott , o Gott‘, aber man darf sich nicht täuschen lassen“, erklärt Thielen. Unter dem Mikroskop zeigten auch braune Flächen noch versteckt Leben. „Solange Chlorophyll da ist, ist das Blatt nicht tot“, sagt Thielen. Die Mooswand sei ein Forschungsprojekt, „kein fertiges Produkt“. Wissenschaftler verschiedener Fachbereiche sind beteiligt. So sammelt das Institut für Feuerungs- und Kraftwerkstechnik der Universität Stuttgart Daten, um die Wirkung der 100 Meter langen Wand auf die Schadstoffkonzentration nachvollziehen zu können. Auch das Umweltamt der Stadt und das Institut für Tragkonstruktion sind involviert. Und Martin Nebel, Experte auf dem Fachgebiet und früher im Naturkundemuseum, doch inzwischen im Ruhestand. „Er ist Berater, es wäre schade, seinen Erfahrungsschatz nicht zu heben“, sagt Thielen.

Moose sind Überlebenskünstler

Moose sind wahre Überlebenskünstler, sonst wären sie kaum 400 Millionen Jahre alt geworden. Selbst das Einfrieren in flüssigem Stickstoff (minus 196 Grad Celsius) überlebt manche Art. Die Lebensbedingungen an der B 14 sind allerdings kaum minder fordernd. „Der Fahrtwind ist stark wie ein Föhn, und es ist wenig Wasser da, die Wand sollte eher schräg als senkrecht stehen, aber dafür ist zu wenig Platz, und jetzt im Winter kommt auch noch das Salz“, beschreibt Sonja Thielen die Herausforderungen für den plüschigen Belag.

Wie tolerant die Moose auf die Pökelattacken reagieren, ist Teil der Untersuchung. „Abgestorben ist deswegen noch nichts, aber das Wachstum wird verlangsamt“, sagt Thielen. Dem auf der Erde vor der Wand ausgelegten Moos stehen noch ausgiebige Salzduschen bevor. Wie oft in der Biologie, könnte die Dosis über die Wirkung entscheiden. „Das ist eine Frage der Langzeitexploration“, sagt Thielen. Moose können extreme Wassermengen – und damit eben auch Salz – aufnehmen. Die Wasseraufnahme sei in Zeiten von Starkregen auch ein interessanter Aspekt, merkt die Wissenschaftlerin an.

Jede Woche wird gezupft

Jede Woche steht die junge Frau, die in Gräfelfing bei München geboren wurde, an der Wand und zupft kleine Stücke aus ihr und vom Boden. Dort ein Stückchen Zackenmützenmoos, ein Brösel vom glatten Zypressenschlafmoos, eine Ecke vom blaugrün schimmernden Frauenhaar- und vom Glashaarmoos.

Es ist eine Art Ernte. Sie wird anschließend akribisch untersucht. Unter dem Mikroskop tun sich dann ungewöhnliche Landschaften auf: glatte Strukturen mit Rillen, auf denen sich kantige Stückchen wie Zuckerkristalle abzeichnen. Oder bergige, auch überzuckerte Landschaften. Es ist aber kein Zucker, sondern Feinstaub, die Partikel sind nur wenige Tausendstelmillimeter groß. Je winziger, desto eher können sie die natürlichen Schutzwälle im Körper passieren und in die Lunge vordringen.

Die Wand steht bis zum 15. April

Thielen dokumentiert die Belastung, zählt Partikel, untersucht, wie sich das Moos entwickelt, ob der Feinstaub verschwindet. Bis zum 15. April 2018 soll die Wand stehen, dann sollen Ergebnisse vorliegen. Dann endet auch Thielens Engagement in Stuttgart, die Moosexpertin muss wahrscheinlich weiterziehen.