Iván Pérez bei Proben mit Tänzern in Heidelberg Foto: Sebastian Bühler

In Sachen Tanz steht am Heidelberger Theater nach dem Abschied der erfolgreichen Nanine Linning alles wieder auf Anfang. Der Spanier Ivan Pérez hält nun die Fäden in der Hand – und fragt, ob das Denken in Hierarchien überhaupt noch zeitgemäß ist.

Heidelberg - Normal ist das nicht. Seit Beginn dieser Spielzeit amtiert Iván Pérez als Künstlerischer Leiter des Dance Theatre Heidelberg; es ist seine erste Chefposition. Doch bevor der Nachfolger von Nanine Linning sich an seiner neuen Arbeitsstelle so richtig einrichten konnte, hatte am Sadler’s Wells Theatre in London „Flutter“ Premiere, ein Auftragswerk der Starballerina Natalia Osipova. Als wäre das nicht schon Ehre genug, choreografierte er zuvor noch im Auftrag der Pariser Opéra „The male Dancer“, ein reines Männerballett – flankiert von „The Art of not looking back“ von Hofesh Shechter und „The Seasons’ Canon“ von Crystal Pite. Zwei nachgerade beängstigende Erfolgswerke.

An Mut mangelt es dem Spanier aus Alicante offenbar nicht. Eher fragt man sich, warum ein Choreograf, der schon in so hohen Kreisen verkehrt, das vergleichsweise bescheidene Angebot des Heidelberger Intendanten Holger Schultze überhaupt angenommen hat. Iván Pérez bleibt die Antwort nicht schuldig: „In Holland konnte ich meine Tänzer nicht kontinuierlich beschäftigen. Heidelberg gibt mir die Chance, ihnen einen Kontrakt anzubieten.“ Doch davon einmal abgesehen, wertet Pérez sein Engagement als einen „wirklichen Beginn“ und den Zeitpunkt als „perfekten Augenblick“. Er sei jetzt 35, erfahren genug und gut vernetzt, um sich über sein künstlerisches Fortkommen kein Kopfzerbrechen machen zu müssen.

Pérez will „vertikale“ Hierarchien erproben

„Mich beschäftigt, was Führung heutzutage bedeutet, und ob sich damit nicht mit der nachwachsenden Generation etwas ändern müsste.“ Pérez nennt das Heidelberger Engagement deshalb auch nicht ohne Selbstironie sein Master’s Program of Leadership und fragt sich: „Braucht es in Zukunft nicht vielleicht Arbeitsstrukturen, die eher vertikal ausgerichtet sind und es den Mitarbeitern erlauben, eigene Ideen auf eine neue Weise einzubringen?“ Dafür böten sich ihm in Heidelberg geradezu ideale Bedingungen: „Ich habe freie Hand, nicht nur mein eigenes Werk zu entwickeln, sondern auch unterschiedliche Führungsmodelle zu erproben – und das ohne Druck drei Jahre lang.“

Sein Werk kann sich inzwischen an vielen Orten sehen lassen; schließlich nutzte Pérez schon während seiner Tänzer-Ausbildung jede sich bietende Gelegenheit, etwas Eigenes auf die Beine zu stellen. „Mir war immer klar, dass ich Choreograf werden will.“ Gelegenheiten boten sich beim Nachwuchsprogramm des Nederlands Dans Theater (NDT), dem er siebeneinhalb Jahre lang als Tanzgestalter angehörte. Gelegenheiten boten sich vor allem beim Korzo-Theater in Den Haag, das ihn nach seinem Erfolg mit dem Duo „Kick the Bucket“ als Associate Choreographer unter Vertrag nahm.

Weltweit Aufmerksamkeit erregte Pérez 2015 mit seinem Einakter „Young Men“ für die Balletboyz in London, der in seiner Film-und DVD-Fassung auf vielen Festivals einen Preis nach dem anderen einheimste. Sicher liegt das zum Teil am Thema, dem Ersten Weltkrieg. Aber wie verletzend, ja verrohend sich das kriegerische Geschehen auf das menschliche Miteinander auswirken kann, das muss man erst einmal sichtbar machen können. Pérez kann das. Obwohl er jeden plakativen Gestus meidet, schafft er es mit seiner Körpersprache, Männlichkeit auf unterschiedliche Weise zu artikulieren.

Nachdenken über eine neue Art von Männlichkeit

Von Männlichkeit, wenngleich auf ganz andere Weise, handelte auch sein Ballett „The Male Dancer“, das im Mai an der Pariser Oper Premiere hatte. Pérez: „Tänzer werden oft kraftvoll eingesetzt, maskulin. Ich dagegen wollte ihnen die Chance einräumen, sich einmal anders auszudrücken, sich sanfter zu geben als sonst, weicher, mitfühlender.“ So wie er selbst sein Mann-Sein zu leben pflegt. Jenny Mahla, seine Dramaturgin am Dance Theatre Heidelberg (DTH), rühmt denn auch seine Menschlichkeit, die sie erstmals als Produktionsassistentin während seines Engagements an der Leipziger Oper erlebt hat. „In der Tanzwelt geht es oft um Selbstdarstellung, Narzissmus und Durchsetzungsnotwendigkeit. Dem setzt Pérez ein Bewusstsein und eine Offenheit entgegen, die mich immer wieder frappieren.“

Offenbar nicht nur sie. Bis auf zwei Ensemblemitglieder, die Iván Pérez von seiner Vorgängerin übernommen hat, rekrutiert sich seine zehnköpfige Mannschaft (plus eine Praktikantin) ausschließlich aus Tänzern und Tänzerinnen, die Pérez schon kennen. Sie schätzen seine kreative Empathie, seine Einfallskraft, die gerade in einem Stück wie „Impression“ zum Tragen kommen soll. Einer Choreografie, mit der sich die Millenium-Generation im Marguerre-Saal selbst darzustellen sucht. Mahla: „Alle unsere Tänzer sind zwischen 1980 und 2000 geboren. Die Frage war: Wie nehmen sie sich wahr? Was treibt sie um? Welche Werte sind ihnen wichtig in ihrem Leben?“

Ausgehend von einem Mentality-Test, wie ihn ein niederländisches Marktforschungsinstitut bei seinen Analysen einsetzt, hat Iván Pérez unter Anteilnahme seines gesamten Ensembles eine Grundlagenforschung der choreografischen Art betrieben, die keine Nabelschau sein will, sondern etwas ganz Spezifisches. Etwas Künstlerisches. Schließlich will man dem Publikum in Heidelberg etwas ganz Besonderes bieten. Denn auf Vorschusslorbeeren auszuruhen, bringt am Ende gar nichts.

„Impression“, Uraufführung am 7. Dezember, Theater Heidelberg; www.theaterheidelberg.de