Beschnuppern bei Getränken und Brezeln: Mentorin Christine Kochmann (rechts) lernt ihre künftige Kollegin Claudia Simeone aus dem italienischen Perugia kennen Foto: factum/Granville

Deutschland braucht Fachkräfte. Die Unternehmen suchen intensiv – auch im Ausland. Unsere Zeitung begleitet eine solche Anwerbung und die beteiligten Menschen ein Jahr lang. Heute: Die neuen Kollegen beschnuppern die Verstärkung aus dem Süden.

Stuttgart/Böblingen - Es lebe das Klischee! Ein gutes Dutzend Krankenhausmitarbeiter aus der Pflege sitzt beisammen und wird mit einer simplen und doch hinterhältigen Frage konfrontiert: Wie sind eigentlich Italiener? „Überlegen Sie sich bitte je eine positive und eine negative Eigenschaft, die Ihnen einfällt“, sagt Gerardo Cardiello.

Der Programmgeschäftsführer vom Internationalen Bund in Stuttgart bekommt das zu hören, was er erwartet hat. La Dolce Vita, das süße Leben, wird da als Lebensart angeführt. Als gesellig, offen und humorvoll gilt das Volk vom Stiefel. Aber auch Begriffe wie laut, impulsiv oder faul fallen manchen ein. Ein Spiel mit Vorurteilen.

Cardiello hat 14 examinierte italienische Krankenpflegekräfte für den Klinikverbund Südwest angeworben. Und jetzt steht er vor deren künftigen Mentoren. Also den Kollegen, die die Neuzugänge aus dem Süden in den nächsten Monaten fachlich begleiten sollen. Ihnen nach Ende des viermonatigen Sprachkurses von Mai an zur Seite stehen, wenn es auf den Stationen in Leonberg, Sindelfingen und Böblingen schwierig wird. Ihnen helfen, sich zu integrieren.

Austausch auf Deutsch kommt immer besser in Fahrt

Die Frage nach den Klischees wird ganz bewusst eingebaut. Denn noch am selben Tag prallen sie auf die Realität, die ganz anders aussehen kann. Nach einer Einführung für die Mentoren treffen sie ihre künftigen Schützlinge. In dem Böblinger Schulungsraum herrscht eine gespannte Atmosphäre. Wie werden sie wohl sein, die richtigen Italiener? Und wie die Deutschen aus den Kliniken, mit denen künftig die Zusammenarbeit gelingen muss? Beide Seiten sind sichtlich nervös.

Und müssen erst einmal lernen, miteinander umzugehen. Manche der Italiener gehen sehr direkt auf ihre Mentoren zu. Der ein oder andere will aber lieber erst einmal einen kleinen Sicherheitsabstand halten. Man tastet sich vor. Doch bald siegt die Neugier. Der Austausch auf Deutsch kommt immer besser in Fahrt, bald schon unterhält man sich rege, werden die ersten Telefonnummern ausgetauscht. Bei Kaffee und Brezeln entspannt sich die Atmosphäre.

„Wir waren vorher schon sehr aufgeregt, aber auch neugierig“, sagt Petra Horrer. Sie ist Gruppenleiterin in der Neurologie der Kliniken Sindelfingen. Mit Raffaella Gugliotta und Francesco Santamaria werden dort gleich zwei der Neuankömmlinge arbeiten. Ganz unerfahren ist die Station mit solchen Situationen allerdings nicht. Bereits in einer ersten Anwerberunde vor drei Jahren ist eine italienische Kollegin auf die Neurologie gekommen. Und hat sich dort gut eingelebt.

Weitere Pflegekräfte aus dem Ausland sind dazu gestoßen. Eine internationale Gruppe erwartet Raffaella und Francesco also. Kein Grund zur Panik.

Manche sorgen sich wegen des Schwäbischen

Die neuen Kollegen werden auch bei Sprachproblemen helfen. Nicht nur, wenn es um Fachbegriffe geht. Raffaella und Francesco machen sich wie die anderen Italiener vor allem um den schwäbischen Dialekt Sorgen. „Das ist manchmal anstrengend, wird aber gehen“, sagt Petra Horrer und lacht. Sowohl bei Patienten als auch bei den deutschen Kollegen hat sie bisher keinerlei Vorbehalte beobachtet, wenn Fachkräfte aus dem Ausland neu angefangen haben.

Das ist nicht selbstverständlich, denn auf die Mentoren und auf die gesamten Pflegegruppen kommt ein gewisser Aufwand zu. „Natürlich brauchen die neuen Kollegen länger, bis sie eingearbeitet sind“, weiß Petra Horrer. Die italienischen Fachkräfte werden zunächst mitgehen, die Abläufe kennen lernen, Fachbegriffe verinnerlichen müssen. Zwischen drei und sechs Monate sind dafür vorgesehen. Am Ende sollen sie selbstständig eine Pflegegruppe auf der Station betreuen können.

Doch bis dahin steht noch der Schlussspurt im ersten Sprachkurs an. Seit Januar büffeln die Italiener fünf Tage die Woche je acht Stunden lang Deutsch. Am 8. Mai ist die B1-Sprachprüfung. „Wir rechnen derzeit nicht damit, dass auch nur einer nicht besteht – es sei denn, die Prüfungsangst siegt“, lobt Kerstin Franz das hohe Niveau der Gruppe. Franz zeichnet beim Klinikverbund für die Personalgewinnung verantwortlich und beobachtet auch, dass der Kurs so langsam an den Kräften zehrt: „Die Leute sind schon müde und gehen teilweise auf dem Zahnfleisch.“ Zur Krönung kommt jetzt auch noch Samstagsunterricht dazu: Die Fachsprache in der Pflege steht dann auf dem Stundenplan, zur gezielten Vorbereitung auf die Arbeit in den Kliniken.

Dort schlägt dann für Deutsche wie Italiener die Stunde der Wahrheit. Was ist wohl Klischee – und was die Wirklichkeit?

StN-Projekt Nordwärts

Der Fachkräftemangel in Deutschland bringt viele Unternehmen dazu, auch im Ausland nach Personal zu suchen. Italien, Spanien, Portugal, aber auch Länder in Asien sind Ziele. Gebraucht werden Ingenieure, Erzieher, Pflegekräfte und viele andere Berufe.

Auf dem Markt tummeln sich inzwischen diverse Anbieter, die Kandidaten nach Deutschland vermitteln. Manche arbeiten seriös, andere nicht. Der Internationale Bund (IB), ein großer Anbieter aus dem Sozialbereich, hat sich auf die Anwerbung von Pflegekräften und Erzieherinnen in Italien spezialisiert. Dort gibt es viele studierte Fachkräfte, die trotz monate- oder jahrelanger Suche keine angemessen bezahlte Festanstellung finden können.

Unsere Zeitung begleitet den IB und den Klinikverbund Südwest in Sindelfingen unter dem Titel „Nordwärts“ ein Jahr lang von der Kandidatensuche bis zur Anerkennung der Fachkräfte in Deutschland. Das Einleben in einem fremden Land, Sprachkurse, Arbeitserfahrungen und schließlich die Prüfung durch das Regierungspräsidium stehen in dieser Zeit auf dem Programm. Der Arbeitgeber und die 14 italienischen Pflegekräfte, die mittlerweile seit Anfang Januar in Deutschland leben, kommen regelmäßig zu Wort und schildern ihre Erfahrungen.

Derzeit sind die Fachkräfte während ihres viermonatigen Vollzeitsprachkurses in Gastfamilien untergebracht. Bisher sind alle Angeworbenen dabei geblieben. (jbo)