Foto: Welzhofer

Zwischen Mythos und Moderne. Israel zeigt dem Reisenden viele Gesichter. Etwa die pulsierende Metropole Tel Aviv, die dieses Jahr ihren 100. Geburtstag feiert.

Elinoar will nicht nach Tel Aviv. Zu hysterisch. Zu oberflächlich. Zu schick, sagt die 22-jährige angehende Sozialarbeiterin aus Jerusalem. Ela, Biologiestudentin, lebt lieber auf den Golanhöhen im Norden. Mehr Ruhe. Mehr Grün. Und für Rana, die arabische Christin, ist in Tel Aviv kein Platz. Zu jüdisch. Zu säkular. Die Frauen "zu billig".

Wo sind die jungen Israelis, die angeblich alle in Tel Aviv leben wollen, in "New Yorks kleiner Schwester", in der Stadt, die feiert statt zu beten, in dieser Stein und Spaß gewordenen Utopie des Zionismus? Ganz einfach: Sie sind in Tel Aviv. Denn in dieser Stadt war man nicht, wird man nicht sein. Man ist da. Man sitzt in den zahllosen Bars, Clubs und Restaurants des Alten Hafens, dessen einzig verbliebene Ware das Amüsement ist. Man zeigt sich am zehn Kilometer langen Stadtstrand oder auf der Promenade, deren Laternen sich wie Tulpenknospen über die Schaumgeborenen und Beachboys beugen. Man shoppt in einem der Clubwear-Läden in der Sheinkin-Street, einem asphaltenem Catwalk, dem Soho Tel Avivs, unheimlich angesagt – oder schon nicht mehr, wer weiß.

Die 400.000-Einwohner-Stadt zwischen Meer und Wüste lebt auf ihren Straßen und in der Gegenwart. Alles muss raus. Und während der Rest des Landes unter mehreren tausend Jahren Geschichte ächzt, feiert Tel Aviv in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag als wäre es der 18. Als eine weitere, nicht enden wollende Partynacht. Aber anders als bei Popdiva Madonna, die hier ab und an Kabbalistik studiert, ist Tel Avivs ewiges Teenagertum nicht peinlich – auch wenn Salz und Wind an vielen Ecken die Schminke abgewischt haben. "Alles kann hier so betrachtet werden, als existiert es nur auf Abruf. Wenn es nicht mehr gefällt, wenn es nicht mehr interessant ist, dann ziehen alle weiter, und was zurückbleibt, mag ruhig verfallen", schreibt Katharina Hacker in "Tel Aviv. Eine Stadterzählung".

Und so musste erst die Unesco 1996 mit der Titelverleihung "Weltkulturerbe" darauf aufmerksam machen, dass im größten Bauhaus- Freilichtmuseum der Welt ganz schön der Putz abbröckelt. Rund 4000 Gebäude sind hier überwiegend in den 1930er Jahren im Geiste der Architekten Walter Gropius und Mies van der Rohe entstanden – und stehen noch und geben dem Ort seinen Beinamen "Weiße Stadt". Es war die Zeit, in der aus dem ehemaligen Vorort Jaffas langsam die erste jüdischen Großstadt der Welt wurde. Nichts sollte mehr an die Enge und Begrenztheit der jüdischen Viertel in Europa erinnern.

"Form follows function" (die Form folgt der Funktion), dieser Leitgedanke des Neuen Bauens fiel in den sandigen Dünen, wo Tel Aviv am 11. April 1909 von jüdischen Siedlern gegründet worden war, auf fruchtbaren Boden. Suchten die frühen Architekten im Eklektizismus, dem Mix verschiedener bestehender Stile, nach einer eigenen Architektursprache für den "Frühlingshügel" (hebr. Tel Aviv), so schien der Bauhausstil aus Deutschland wie erdacht dafür. Und Tel Aviv machte ihn sich zu eigen und etwas Eigenes daraus: Aus rechten Winkeln wurden Rundungen. Aus quadratischen Fenstern Schlitze und Bullaugen, die Häuser bekamen ein Dach, das von allen Bewohnern gemeinsam genutzt wird, Stelzen und Balkone, groß wie eine Reling und mit Sonnenschutz. Schiffen gleich liegen sie noch heute in Gärten, grün wie das Meer, als könnten sie jederzeit in See stechen und Platz machen für wieder Neues.

Deshalb will Michal auch nirgends anderswo sein. Die Architekturstudentin führt Touristen im Auftrag des Bauhaus-Centers rund um den Ditzengoff Platz, vorbei an den Bauhäusern, von denen 95 Prozent als Wohnraum genutzt werden. Mit brillengläsernen Schmetterlingsflügeln vor den Augen flattert Michal voraus, weist auf Details und Eigenarten hin und immer wieder auch drauf, was an den Häusern alles zu erneuern wäre oder wo wieder unerlaubt ein Balkon verkleidet und ein Garten zum Parkplatz umgebaute wurde. "In den vergangenen zehn Jahren sind schon viele Häuser renoviert worden, aber es gibt immer noch jede Menge zu tun", sagt Michal. Denn auch das ist typisch für die Stadt am Meer: In Jerusalem streiten sich sechs christliche Religionsgemeinschaften, wer das Kreuz auf der Grabeskirche bezahlen darf. In Tel Aviv scheitert so manche Weltkulturerbe-Renovierung, weil nicht alle Wohnungsbesitzer mitzahlen wollen.

Heißer Sand

Vielleicht speist sich Tel Avivs Sorglosigkeit auch aus der weitgehenden Abwesenheit von Religion und konfliktbeladener Geschichte. Zwar gibt es orthodoxe Viertel, zwar gab es sie, die Bomben in den Cafés, das Attentat, bei dem Friedenshoffnungs und -nobelpreisträger Yitzak Rabin starb. Aber im ausgelassenen Jetzt werden alle Ängste überspielt. Während am Sabbat das Jerusalemer Leben wie unter einem schweren Gebetsschal zu verschwinden scheint, hebt sich auf der Freiluftbühne Tel Aviv erst der Vorhang.

Auch deshalb ist Tel Aviv Zentrum zeitgenössischer Kultur. Unter der Rubrik "Kunst" listet der Veranstaltungskalender der Zeitung "Ha’aretz" für Tel Aviv zwei kleinbedruckte Seiten auf. Für Jerusalem, die fast doppelt so große Landeshauptstadt, reicht eine Spalte. Ähnliches gilt für Theater, Ballett und Popmusik. Wegweisende, himmelstürmende Architektur ist auch nach dem Bauhaus zuhauf entstanden. Richard Meier und I. M. Pei haben hier unter anderen gebaut.

Dafür fehlt das Alte. Wer Sehenswürdigkeiten und spirituelle Orte vom Rang einer Klagemauer, Geburtskirche oder eines Felsendoms sucht, muss anderswo hin oder den alten Hafen Jaffa besuchen. Tel Aviv kann im Zuge einer Israelreise eine wunderbare Verschnaufpause sein, ein sonniger Strandtag, mehrere durchtanzte Nächte, ein entspannter Einkaufsbummel oder ein freier Gedanke.

Alt ist hier schon der Trödler mit dem Pferdewagen oder der Carmelmarkt mit seinen Lebensmittelhändlern. Oder die Linksintellektuellen älteren Semesters im Café Tamar, das schon existierte, als die Briten noch Mandatsherren waren, und dessen Spezialität noch immer ein halber Bagel mit Käse ist. Manches bleibt doch in Tel Aviv. "Was mitten im Sand steht, ist für immer mehr als nur die Idee einer Generation", schreibt der Fotograf Jean-Baptiste Avril-Bodenheimer über die Stadt. Auch so einer, der in Tel Aviv ist.

Info: Flüge: El Al fliegt von Frankfurt und München aus direkt nach Tel Aviv (http://www.elal.co.il), Tuifly von Memmingen und München (http://www.tuifly.com).

Literatur: Einen aktuellen deutschen Reiseführer zu Tel Aviv gibt es nicht, die Stadt ist aber in sämtlichen Israel-Reiseführern enthalten. Auf Englisch ist dieses Jahr der "Wallpaper City Guide Tel Aviv" im Phaidon Verlag für 8,95 Euro erschienen. Ausführliche Infos zu Geschichte und Kultur, auch der Palästinensergebiete, liefert der Dumont Kunstreiseführer Heiliges Land, 7. Auflage 2009, 25,90 Euro.

Bauhaus: Führungen bietet das Bauhaus Center Tel Aviv in der Ditzengoff Street an, Infos unter Telefon 0 09 72/3/5 22 02 49 oder http://www.bauhaus-center.com. Fürs Übernachten im Bauhausstil ist das Cinema Hotel am Ditzengoff Platz richtig (Doppelzimmer zwischen 107 und 176 Euro; Tel. 009 72/3/5 20 71 00, http://www.cinemahotel.com); weitere Übernachtungsmöglichkeiten in Tel Aviv unter http://www.atlas.co.il.

Gruppenreisen: Biblisch Reisen bietet Touren durch Israel und das Westjordanland an, u. a. eine Reise, in der es zu Begegnungen mit Vertretern verschiedener Bevölkerungsgruppen kommt, neun Tage, ca. 1500 Euro pro Person inklusive Flug. Biblisch Reisen organisiert auch Touren auf Wunsch für Gruppen, Telefon 07 11/6 19 25 55, http://www.biblisch-reisen.de. Auch Studiosus hat Israel im Programm, Telefon 0 08 00/24 02 24 02; http://www.studiosus.de.

Infos: Israelisches Verkehrsbüro in Berlin, Telefon 030/2 03 99 70, http://www.goisrael.de.