Die antike Oasenstadt Palmyra. Terroristen des Islamischen Staates sprengten die Jahrtausende alten Ruinen Foto: dpa

Zu Beginn des islamischen Fastenmonats hatte unsere Zeitung über mögliche Offensive des Islamischen Staates spekuliert. Wo griffen die Terroristen wirklich an? Ein Faktencheck.

Deir Essor - Tagelang hingen die beiden Jungen am Kreuz. Auf ihrer Brust ein Pappschild, auf dem in arabischen Lettern ihr Verbrechen festgehalten war: Die beiden Teenager hätten, so der Richterspruch, das vorgeschriebene Fasten während des „Ramadan ohne religiöse Rechtfertigung“ gebrochen. Religionspolizisten der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) hatten in der Stadt al-Mayadin die Buben in flagranti erwischt. Gerade, als sich die 14 und 15 Jahre alten Jungs während des Fastenmonats nach stundenlangen Anstehen für Fladenbrote ein Stück davon abrissen und in den Mund schoben. „Sie wurden nach dem letzten Freitagsgebet im Juni vor dem Hauptquartier der Religionspolizei öffentlich gekreuzigt“, erzählt ein Menschenrechtsaktivist über das Internettelefon Skype aus der ostsyrischen Stadt Deir Essor.

In der sind mehr als 300 000 Menschen seit zwei Jahren eingeschlossen: Das Zentrum, den Westen und Osten bis zum Ufer des Euphrat halten IS- Kämpfer, den Nordwesten und Südosten Truppen des syrischen Diktators Baschar al-Assad. In nur noch zwei Bäckereien werden überhaupt Brote verkauft. Infektionen greifen um sich.

Für die Großansicht klicken Sie bitte auf die Karte.

Die Not der Menschen in Deir Ezzor hat sich nicht verringert, seitdem die Terrorgruppe am 27. Juni aus der Region um die Wüstenstadt Palmyra zum Angriff über 200 Kilometer nach Norden antrat. Damit schlossen die Terroristen die Lücke, die zwischen Deir Essor am Euphrat und der Oase Palmyra klaffte, in der die Terroristen unlängst den 2000 Jahre alten Tempel Baal Schamin zerstörten.

Über die bevorstehende Ramadan-Offensive des IS nach Deir Ezzor hatte unsere Zeitung am 20. Juni unter der Überschrift „Angriff zur Fastenzeit“ ebenso spekuliert wie über andere Angriffe der Terrororganisation in Syrien und im Irak. Unsere Reporter haben seitdem 3754 Einträge in sozialen Netzwerken ausgewertet und ungezählte Telefonate mit Menschenrechtsaktivisten in Syrien, Befehlshabern und Soldaten der Freien Syrischen Armee (FSA) geführt – und so festgestellt, was tatsächlich bis zum Ende des Ramadans am 18. Juli geschehen ist:

Nordsyrien

Hier ist der IS im Zuge der das syrische Aleppo und das irakische Mossul verbindenden Autobahn M 4 zur Verteidigung gegen kurdische Kämpfer übergegangen. So wollen die Kämpfer der Terrorgruppe ihren derzeitigen Verwaltungssitz in Raka schützen. Mit einem Gegenangriff vom 25. Juni bis zum 7. Juli versuchten die Dschihadisten, die Kurden in die syrisch-türkische Grenzstadt Kobane zurückzudrängen.

Vom 2. bis zum 8. Juli attackierte ein aus dschihadistischen und eher moderaten Rebellengruppen gebildeter Kampfverband den Nordwesten, Norden und Nordosten Aleppos. Mit der Offensive sollte der Belagerungsring gesprengt werden, den das syrische Regime um die Metropole gelegt hat. Der Angriff wurde von den Regierungstruppen zurückgeschlagen. Die Angreifer hatten große Verluste. Sowohl die Verteidigungsoperation an der M 4 wie auch die Offensive bei Aleppo hatte unsere Zeitung vorhergesagt.

Zentralsyrien

Außer der Attacke bei Deir Ezzor trat am 29. Juni ein Großverband des IS aus dem Raum Palmyra zum Angriff an. Dessen Ziel ist es, die westlich der Oasenstadt kämpfenden syrischen Regierungstruppen einzukesseln und bis nach Homs vorzustoßen. Am gestrigen Montag waren IS-Kämpfer in die Ortschaft al-Furqlus eingedrungen – 41 Kilometer östlich von Homs. Westlich von Palmyra drohen etwa 8 000 Assad-treue Soldaten eingeschlossen zu werden. Ihnen bleibt derzeit noch eine etwa 18 Kilometer breite Lücke, um sich in Sicherheit zu bringen.

Während ihrer Offensive nahm der IS am 7. August die südlich von Homs gelegene Stadt Karaytain ein und verschleppte mindestens 270 Menschen – unter ihnen 160 syrische Christen. Am 21. August zerstörte der IS hier das 432 nach Christus gegründete katholische Kloster Mar Elian.

Das zum größten Teil zerstörte Homs ist für die Terrororganisation von großem Wert: Die Millionenstadt beherrscht das fruchtbare Talbecken des Orontes. Vor dem Krieg war die Metropole ein Zentrum der Textil- und Chemieindustrie Syriens.

Palmyra hat während des Ramadan für den Islamischen Staat eine strategische Bedeutung bekommen. Die Oase liegt im Zentrum Syriens. Von hier aus können Truppen über gut ausgebaute Straßen in alle wichtigen Städte der Levante verlegt werden: Aleppe, Deir Ezzor, Homs, Damaskus und in den Libanon. Israelische Anti-Terrorexperten sprechen von „dem neuen Zentrum der macht des Islamischen Staates“. Die antike Wüstenstadt könne schon in absehbarer Zeit den derzeitigen Verwaltungssitz Raka ersetzen. Für Eitan Azani, Analyst des Institutes für Anti-Terror-Strategien (ICT) in Herzeliya, wird „Palmyra in den kommenden Monaten das Herz, das das Blut in den Körper des Terrorreichs pumpt“.

Zentralirak

Nördlich von Bagdad griff der IS am 28. Juni aus dem Raum Tikrit entlang der Autobahn 1 in Richtung der irakischen Hauptstadt an. Ziel des Angriffs war es, den Transport irakischer Regierungstruppen und deren Nachschub auf der sehr gut ausgebauten Schnellstraße zu unterbinden. Südlich von Samarra stoppten die Soldaten des irakischen Premiers Haider al-Abadi die Offensive. Unterstützt von iranischen Milizen gingen sie am 18. August zum Gegenangriff über, der bislang die IS-Terroristen kaum zurückdrängt. Wir hatten hier vorhergesagt, das der IS mit kleineren Angriffen die Autobahn unterbrechen würde.

Ausgeblieben jedoch ist die vorhergesagte Großoffensive des sunnitischen IS in Richtung der heiligen Städte Kerbala und Nadschaf. Beide Orte haben für schiitische Muslime hohe Symbolkraft: In Kerbala befindet sich das Grab des für sie wichtigen Imams al-Husain, einem schiitischen Enkel des Propheten Mohammeds. Er wurde 680 vor den Toren der Stadt in einer Schlacht gegen den sunnitischen Kalifen Yazid I. getötet.

In Nadschaf verehren Schiiten in der Iman-Ali-Moschee das Grab des Imans Ali ibn Abi Talib. Er war Schwiegersohn und Nachfolger Mohammeds. Die Moschee ist das bedeutendste schiitische Heiligtum im Irak. Ziel der möglichen IS-Offensive, so unsere Spekulation im Juni, sollte es sein, mit der Eroberung der beiden Städte bis zum Jahresende und der vorhersehbaren Zerstörung der Heiligtümer, die Macht des IS-Anführers al-Baghdadis als einzige religiöse Autorität zu unterstreichen. Die einzige Prognose, die nicht eintrat.