Am Donnerstag fängt der Fastenmonat Ramadan an. Einschränkungen durch das Coronavirus verändern Abläufe in islamischen Gemeinden in Stuttgart. Es gibt jedoch Hoffnung, dass das Land die Restriktionen auch für Moscheen lockert.
Stuttgart - Es muss eine tiefere Bedeutung hinter dem Coronavirus stecken. Davon ist Aykut Mercan überzeugt. Normalerweise wäre der 22-Jährige zu Beginn des Fastenmonats Ramadan damit beschäftigt, Flyer zu drucken und auf sozialen Netzwerken Jugendliche zum Fastenbrechen in die Gemeinderäume des islamischen Verbands Ditib nach Stuttgart Feuerbach einzuladen. Stattdessen trägt er seit Wochen Einkäufe bedürftiger Menschen an deren Haustür und führt ihre Hunde Gassi. Er nimmt häufig Anrufe von Personen entgegen, die von seiner Nachbarschaftshilfe gehört haben, die er und seine Freunde organisieren. „Die Menschen melden sich bei uns unabhängig von Herkunft und Religion“, sagt er. Vielleicht sei das ja die Absicht Gottes mit Corona, meint Mercan: die Nächstenliebe im Menschen wieder zu wecken.
450 Menschen beim Fastenbrechen in Feuerbach
Mercan hilft der Glaube dabei, die Ereignisse der letzten Monate einzuordnen. Er ist im Jugendvorstand von Ditib. An diesem Donnerstag fängt sein letzter Ramadan an, bevor er sein Studium der islamischen Theologie in Tübingen aufnimmt. Normalerweise fastet jeder Muslim für sich, doch die Abende sind auch in islamischen Ländern oft ein großes Fest. Es gibt kollektive Essensausgaben oder Freunde und Verwandte laden einander zum Essen nach Sonnenuntergang ein. Wegen den Kontakteinschränkungen durch das Coronavirus müssen Gläubige auf der ganzen Welt auf diesen gemeinschaftlichen Aspekt verzichten.
Auch Mercan hat die vergangenen Jahre ehrenamtlich mitgeholfen, das allabendliche Fastenbrechen der Gemeinde zu organisieren, zu dem an manchen Tagen bis zu 450 Menschen in die Moschee nach Feuerbach kamen. Normalerweise herrscht Arbeitsteilung, die einen kochen und die anderen, zumeist junge Menschen, bauen die Tische auf und dekorieren den Raum.
Die Tradition des Fastens während des islamischen Monats Ramadan ist für viele Muslime das wichtigste Ereignis des Jahres. Es ist Teil der fünf Säulen des Islam und damit der religiösen Pflichten, an die sich Muslime halten sollen. Die anderen sind das Glaubensbekenntnis, das fünfmalige tägliche Gebet, die Almosenvergabe und die Wallfahrt nach Mekka. Das Fasten ist mit den Anfängen der Religion verbunden. Im Monat Ramadan wurde dem Propheten Mohammed laut Überlieferung erstmals ein Teil der heiligen Schrift des Korans überliefert.
Kein Kaugummi an Ramadan
Viele islamische Gemeinden nutzen die 30 Tage, die der neunte islamische Monat Ramadan dauert, um Öffentlichkeitsarbeit zu leisten. Sie laden Nicht-Muslime zum gemeinsamen Fastenbrechen ein und erklären ihnen, wie es sich anfühlt, einen ganzen Monat von Sonnenaufgang bis -untergang auf Essen und Trinken zu verzichten. Menschen, die fasten, rauchen zudem nicht und kauen nicht einmal Kaugummi. Davon abgesehen können sie ihren normalen Tagesabläufen nachgehen. „Ich war früher sogar beim Fußballtraining und habe Klassenarbeiten mitgeschrieben“, sagt Aykut Mercan. Er fastet schon seit seinem 13. Lebensjahr.
Das Coronavirus nimmt aus einem weiteren Grund Einfluss auf den Ramadan in diesem Jahr. Denn vom Fasten ausgenommen sind beispielsweise Kranke, ältere Menschen oder schwangere Frauen. Und Kranke wird es dieses Jahr mehr geben als sonst. „Das Virus macht weder halt vor Religion noch vor Alter“, sagt Muhittin Soylu.
Der 56-Jährige ist einer der wichtigsten Vertreter der Muslime in Baden-Württemberg. Er stand in der vergangenen Woche im Austausch mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann und dem Staatsministerium. Der Vorsitzende der Islamischen Glaubensgemeinschaft (IG) repräsentiert mehr als 100 Moscheegemeinden in Baden-Württemberg. Auch Muslime warten gebannt darauf, dass Gebetshäuser in die vom Staat verkündeten Lockerungen aufgenommen werden. „Wir empfehlen den Gläubigen zudem, die Schutzmaßnahmen einzuhalten, die von der Regierung vorgegeben werden“, sagt Soylu. Dabei sei es insbesondere für ältere Menschen wichtig, auf die Empfehlungen des Arztes zu hören, ob das Fasten mit der Gesundheit vereinbar sei.
Konferenz mit Glaubensvertretern
Auch das Staatsministerium bestätigt auf Anfrage unserer Zeitung, dass sich zunächst nichts an der Vereinbarung von Bund und Ländern ändert, dass Zusammenkünfte in Gebetshäusern wie Kirchen, Moscheen und Synagogen zunächst bis zum 3. Mai nicht stattfinden werden. Dennoch prüfe man, ob man die Abstands- und Hygienebestimmungen für religiöse Einrichtungen schrittweise aufheben könne. Laut Staatsministerium sei es nicht ausgeschlossen, dass diese Lockerungen sogar noch in die Zeit des Ramadans fallen. „Es wird an diesem Mittwoch dazu eine Konferenz mit Vertretern muslimischer Verbände geben“, so ein Sprecher.
Eine Lockerung wird unter Muslimen sehnsüchtig erwartet. So ist seit der Corona-Krise auch die Seelsorge in den Gemeinden schwerer geworden. Normalerweise stehen die Imame praktisch fünf mal am Tag nach dem traditionellen Vorbeten in den Moscheen auch für Fragen der Gläubigen zur Verfügung. Seitdem die Gebete in den Moscheen ausfallen, ist das jedoch nicht mehr möglich. „Daher bieten einige Gemeinden zumindest Online-Gebetsvorträge an“, so Muhittin Soylu.
Ditib baut Moschee bis 2025
Verbände wie Ditib geraten zudem in finanzielle Schwierigkeiten. Denn eigentlich war Ismail Cakir, der Vorsitzende der Ditib in Stuttgart, zuversichtlich, in diesem Jahr sogar mit den Bauarbeiten der fast 30 Millionen Euro teuren Moschee in Stuttgart Feuerbach anzufangen. Durch das Coronavirus geraten die Pläne jedoch ins Wanken, da die entscheidende Kommission laut Cakir wegen den Einschränkungen nicht zusammenkommen kann, um Entscheidungen zu treffen.
Das kollektive Fastenbrechen war zudem wie das Freitagsgebet, das inzwischen auch wegen Corona nicht mehr stattfindet, immer eine Gelegenheit, um Spenden zu sammeln. „Das Spendensammeln ist aktuell nicht möglich“, sagt er. Seine Hoffnung ist, dass nach der Corona-Krise mit hoher Anstrengung die finanziellen Ausfälle der letzten Monate von den Mitgliedern wieder getragen werden können. So hält er auch an seinem Ziel fest, die Moschee bis 2025 fertigzubauen.
Doch nicht nur Ditib, auch kleinere Gemeinden haben Schwierigkeiten. Insbesondere die letzten zwei Jahre waren für Kamal Ahmad nicht einfach. Der 42-Jährige gehört der Ahmadiyya in Stuttgart an, einer islamischen Gemeinde, die ihren Ursprung in Indien hat. Normalerweise würden sich die Gläubigen ab diesem Donnerstag auch mehrmals die Woche in ihren Räumlichkeiten in Bad Cannstatt treffen, um gemeinsam das Fasten zu brechen. Zudem beten sie gemeinsam und tauschen sich nach einem Tag der Enthaltsamkeit aus. So war es zumindest die letzten Jahre. Dass es diesmal im Ramadan nicht dazu kommt, hat neben Corona noch einen weiteren Grund. Es gab im Januar 2019 einen Brandanschlag auf die Gemeinderäume in der Daimlerstraße. Seitdem sind sie nicht mehr nutzbar. „In diesem Jahr empfehlen wir unseren Mitgliedern, niemanden zum Essen einzuladen und auch nicht zu anderen zu Besuch zu gehen“, sagt Ahmad.
Den inneren Schweinehund bezwingen
Mit den sozialen Einschränkungen sieht der 22-jährige Aykut Mercan nun umso mehr den Schwerpunkt des diesjährigen Ramadans in der persönlichen Erfahrung, die das Fasten bringt. Immerhin sei der menschliche Körper eine Leihgabe Gottes, auf die es aufzupassen gelte. Das Fasten an sich sei vor allem in den ersten Tagen schwer. „Danach klappt alles wiederum mit einer großen Leichtigkeit. Doch Fasten bedeutet immer auch, den inneren Schweinehund zu bezwingen“, sagt er. Schließlich meldet sich dieser in Corona-Zeiten mehr zu Wort. Und ohne Disziplin klappt nichts.